Jagdhunde (German Edition)
entführte oder als er sie erstickte.«
Line beugte sich vor und sah sich das Foto aus der Nähe an. »Hatte er welche?«
Wisting ging zu ihr. »Nein.«
»Ist das nicht etwas merkwürdig?«, fragte Line. »Wenn ich das gewesen wäre, hätte ich mich mit Händen und Füßen gewehrt und gekratzt und geschlagen.«
»Die Menschen sind nicht alle gleich«, erwiderte er. »Viele Vergewaltiger kommen ohne irgendwelche Verletzungen davon.«
»Wurde sie vergewaltigt?«
»Nein.«
»Aber ist das nicht auch ziemlich seltsam? Also ich meine, wozu sollte er sie sonst entführt haben?«
Wisting sah seine Tochter an. Er war erstaunt, wie scharfsinnig sie war, aber andererseits war es schließlich ihr Job, kritische Fragen zu stellen.
Line wartete die Antwort nicht ab. Sie nahm die Einkaufstüten, die sie an der Tür abgestellt hatte, und trug sie hinüber zur Arbeitsplatte. »Ich habe was zu essen mitgebracht«, sagte sie und begann, die Tüten auszupacken.
Zehn Minuten später saßen sie am Tisch und aßen frisch belegte Brötchen.
»Was versuchst du zu finden?«, fragte Line und blickte neugierig über den Tisch, der mit Dokumenten und Notizen übersät war.
Wisting wusste selbst nicht genau, wonach er eigentlich suchte. »Unregelmäßigkeiten«, gab er zurück. »Unbedeutende Details oder Nebensächlichkeiten, die ich vor Jahren nicht bemerkt habe oder von denen ich dachte, sie hätten mit dem Fall nichts zu tun.«
Line hob einen der Polizeiberichte auf und aß ihr Brötchen zu Ende. »Kann ich dir helfen?«, fragte sie. »Ich bin gut mit solchen Sachen.«
Wisting lehnte sich zurück und dachte einen Augenblick über das Angebot nach.
Er hatte längst eingesehen, dass die Arbeit für einen allein viel zu viel sein würde. Line war genau die Richtige für solch eine Aufgabe. Als Journalistin hatte sie fast so etwas wie ein angeborenes Misstrauen, was öffentliche Berichte und Stellungnahmen anbetraf. Sie war es gewohnt, eingetretene Bahnen zu verlassen.
»Du kannst aber nichts davon in die Zeitung bringen«, sagte er.
»Ich bin nicht als Journalistin hierhergekommen«, erwiderte sie. »Ich bin hier, weil du mein Vater bist.«
Wisting lächelte. »In Ordnung.« Er räumte den Tisch ab, erläuterte ihr den Fall und erklärte, wie die Unterlagen geordnet waren. Er berichtete von den Listen, den einzelnen Projekten und den neuen Analysen. Erzählte vom Einbruch, dem Stiefelabdruck, von Haber, der die Schuld auf sich nehmen wollte, von der Begegnung mit Danny Flom und von der Verabredung, die er für den nächsten Tag mit Rudolf Haglund in der Kanzlei des Anwalts vereinbart hatte. Wisting konnte sehen, wie sehr sich seine Tochter für die Sache interessierte.
»Und wonach suchst du jetzt eigentlich?«, fragte sie noch einmal, nachdem er geendet hatte.
»Was meinst du?«
»Suchst du nach demjenigen, der die DNA-Probe eingeschmuggelt hat, oder nach irgendwas, das deinen Glauben an Haglunds Schuld verstärkt?«
»Sowohl als auch«, erwiderte er. »Ich glaube, dass sich beides hier finden lässt.«
Line stand auf und ging wieder zu den drei Bildern an der Wand. Lange stand sie da und betrachtete sie. »Du glaubst also, ein Polizist hat den DNA-Beweis manipuliert, um sicherzugehen, dass der Mörder nicht davonkommen könnte?«, fragte sie, während sie ihm den Rücken zugekehrt hielt.
»Ja.«
Line wandte sich zu ihrem Vater um. »Und was wäre, wenn das überhaupt nicht passiert ist?«, fragte sie.
»Was denn sonst?«
»Wäre es nicht möglich, dass ein Polizist sie entführt und den Beweis eingeschmuggelt hat, um jemand anderem die Schuld zu geben?«
42
Zunächst wollte Wisting Lines Theorie als absurd und lächerlich abtun, blieb dann aber vor dem Foto stehen, das die versammelten Ermittler bei der Rekonstruktion an der Gumserød-Kreuzung zeigte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte einer von ihnen den DNA-Beweis gefälscht. Natürlich gab es darüber hinaus auch die Möglichkeit, dass einer von ihnen andere Verbrechen begangen hatte, und Wisting musste zugeben, dass Lines Einfall durchaus plausibel sein konnte. Umso mehr war er nun davon überzeugt, dass sie die Richtige war, um die Falldokumente zu durchforsten. Wenn es etwas gab, das er übersehen hatte, dann würde sie es bestimmt finden.
Wisting stand auf, trat an den Kamin und legte ein paar neue Holzscheite hinein. »Ich muss was erledigen«, sagte er und nahm seine Jacke.
Line war bereits in den ersten Aktenordner vertieft. »Was denn?«, fragte sie
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