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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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in New Jersey gelandet. Männer mit Todesstrahlen griffen an. Orson Welles’ Zuhörer glaubten ihm aufs Wort eine Nachrichtensendung, flüchteten aus den Städten. Auf den Straßen von New York knieten betende Frauen. Leute liefen umher mit Hand- und Taschentüchern auf dem Kopf, um sich gegen Giftgase zu schützen. Die Ausfallstraßen waren verstopft. Die Universität Princeton entsandte eine wissenschaftliche Expedition mit freiwilligen Studenten und todesmutigen Professoren. Das war der November 1938 in diesem Land.
    In dem anderen Land …
    In Jerichow, Mecklenburg-Lübeck, hatte die Gaufilmstelle Anfang November im Schützenhaus zwei Filme vorgeführt, Schwert des Friedens und Juden ohne Maske. Der erste hatte sogar vom Land Zuschauer herangezogen, einmal weil da Aufnahmen aus der Vorkriegszeit versprochen waren, zum anderen, weil er bei aller Aufrüstung doch einen Krieg in Zukunft abstritt. Gegen Ende von Juden ohne Maske war der Saal recht leer geworden, zum Verdruß von Gastronom Prasemann, der dem Publikum hinterher hätte Bier und Korn verkaufen wollen, und zur Wut von Friedrich Jansen, der sich vornahm, bei einer nächsten Vorführung S. A.-Posten vor die Türen zu stellen. Wer immer der Gaufilmwart war, mit den Denkweisen einer Landstadt war er nicht vertraut. Der Film war zusammengesetzt aus Schnipseln von Lichtspielen, die einst deutsche Juden hergestellt hatten, und sie enthüllten nicht »die verheerende Wirkung des jüdischen Einflusses auf unsere Kultur«, sondern daß die gezeigten Sachen nur in Großstädten vorfallen konnten; man denke sich Oskar Tannebaum allein in einem Salon mit einer Dame. Die S. A.-Leute in der ersten Reihe waren aber sitzen geblieben, und was sie noch bis Mitternacht zu sich nahmen, konnte Prasemann doch ein Weniges trösten.
    Am 5. und 6. November liefen wieder die Hitlerjungen umher, wegen der 2. »Reichsstraßensammlung«, und hielten nicht nur auf den Straßen Leute auf, sondern klingelten an den Türen. Papenbrock, den sie aus dem Nachmittagsschlaf geweckt hatten, führte eine fast tonlose Brüllszene auf und ohrfeigte einen der Jungen, der das Vergehen für genug abgestraft hielt und dem Alten doch die Klapperbüchse hinhielt. Das war Otto Quade, der zu Hause noch eine ins Gesicht bekam, weil August Quade, Klempnerei und Installation, bei Papenbrock Geld aufgenommen hatte. In den Zeitungen war das Bild von der Taufe Edda Görings, der selben, die sich heute noch mit den Gerichten streitet über ihre Rechte an Cranachs Bild Madonna mit dem Kinde, das die Stadt Köln ihrem Vater zum freudigen Ereignis hatte schenken müssen, und bei der Gestapo in Gneez ging eine Anzeige ein gegen mehrere Personen, die eine Spende unter Berufung auf diese Taufe verweigert hatten. Die Ermittlungen ergaben später, daß der Junge seine Sammelbüchse in ein Gespräch unter Biertrinkern hineingestreckt hatte, daß die beleidigende Äußerung eine unabhängige Feststellung gewesen war, und daß Alfred Bienmüller, der schon seinen Sohn nicht hatte konfirmieren lassen, sehr wohl den Vorsatz äußern dürfe, nie für eine Taufe Geld auszugeben, ob er nun noch von seiner fünfzigjährigen Frau kleine Kinder bekommen werde oder nicht. Lisbeth Cresspahl war empört, daß die 2. Reichsstraßensammlung nicht einmal das Heilige Fest der Reformation verschonen sollte. Am 8. November brachte der Lübecker General-Anzeiger die Nachricht von dem Schuß auf vom Rath, mit dem Zusatz, es sei im nationalsozialistischen Deutschland keinem Juden ein Haar gekrümmt, geschweige denn nach dem Leben getrachtet worden. Lisbeth nahm das gekrümmte Haar beim Worte, weil Rechtsanwalt Spiegel in Kiel in den Kopf geschossen worden war, obwohl sie die Tötungsabsicht nicht billigen mochte. Cresspahl sah an ihr eine kurz aufflackernde Aufregung, »ein Feuer wie aus Streichhölzern« nannte er es zehn Jahre später, dann wieder Gelassenheit, fast Erheiterung über eine hansestädtische Zeitung, die nicht wußte, was wahr war. Dann wurde das Kind gerufen, Gesine, die inzwischen gelernt hatte, das Papier als Ersatz für Toilettenpapier in Stücke zu reißen. Cresspahl hatte die Reise nach Malchow und Wendisch Burg nicht übers Wochenende gemacht, Lisbeth und dem Gottesdienstbesuch am Reformationstag zuliebe; er mochte sie nun nicht aufschieben. Er kam nicht darauf, daß es dies Mal anders zugehen sollte als vor zwei Jahren, als David Frankfurter den schweizerischen Nazi Wilhelm Gustloff erschossen hatte. Er wollte in

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