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Jahrmarkt der Unsterblichkeit

Jahrmarkt der Unsterblichkeit

Titel: Jahrmarkt der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
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zwei Aussätzige.»
    Hannah starrte ihn an. «Jesus hier?»
    «Ja. Er kannte diesen Ort bestimmt, denn nicht weit von hier liegt Betharaba, wo er von Johannes getauft wurde. Und Nazareth ist kaum mehr als zwanzig Kilometer von hier entfernt.»
    «Nazareth?» wiederholte Hannah, blieb stehen und schaute sich um, als ob sich die ganze Welt plötzlich verändert hätte und sie sie neu sähe: die Felder, die Hügel und die Häuser. «Nazareth so nahe?» Die Hände mit den festgeballten Fäusten hoben sich zur Brust. Sie sagte: «Sollten wir nicht nach Nazareth gehen?»
    Sears warf rasch ein: «Es liegt nicht auf unserm Weg, Miss Bascombe. Es bedeutet einen Umweg und nimmt vermutlich einen ganzen Tag in Anspruch, wenn wir dorthin wollen. Unsere Route geht über Tiberias, und je eher...»
    Sie nickte, schien jedoch unfähig, einen Entschluß zu fassen; deshalb fragte sie: «Ist es ein großer Umweg, Dr. Levi?»
    Er blieb stehen — eine gedrungene Gestalt in einem Feld von Mohn und Kornblumen, das ernste Gesicht unter einem wunderlichen, abgegriffenen Khakihut — und dachte über ihre Frage nach, denn er über- legte sich alles sehr aufmerksam. Schließlich sagte er, die sanften Augen auf Hannah gerichtet: «Manche Menschen tragen Nazareth im Herzen. Für sie ist es nur ein Schritt. Andere könnten Tausende und aber Tausende von Kilometern reisen, ohne es jemals zu erreichen.»
    Hannah wiederholte: «Ein Schritt — oder Tausende von Kilometern...»
    Alle beobachteten sie. Clary brachte die Waage zum Ausschlag: «Es liegt so nahe, Miss Bascombe. Könnten wir nicht hinfahren?»
    Hannah starrte sie einen Augenblick überrascht an. Dann bemerkte sie kurz: «Ich möchte nach Nazareth fahren, Mr. Sears.» Damit ging sie allein vor den andern her.
    Sears zuckte die Achseln und folgte ihr. Er wunderte sich sehr über Clary Adams.

19

    Hannah, warum weinst du?... Warum ist dein Herz so traurig?
    I. SAMUEL 1, 8

    Während der ganzen Zeit, die sie auf ihr Ziel Zufuhren, hatte der einzigartige Reiz Palästinas darauf hingewirkt, die harte Schale der Vergangenheit, die Hannah umgab, aufzuweichen. Die Landschaft traf sie dort, wo sie am schwächsten war. In vielen Gegenden wirkte Israel mit seinen sanften, braungebrannten Hügeln wie jener Teil Kaliforniens, den sie während ihrer Kindheit kennengelernt hatte, als sie ihren Vater in die amerikanische Wüste begleitet und gesehen hatte, wie sich die Schienenlegermannschaften langsam nordwärts nach Oregon vorarbeiteten. Und wohin Hannah nun auch blickte, überall wurde der Boden aufgebrochen und Pionierarbeit geleistet.
    Daß die Erschließung Amerikas zu Hannahs Lebzeiten vollendet worden war, bildete einen erheblichen Teil ihrer Krankheit. Als ihr Vater starb, waren keine Wüsten mehr zu besiegen, keine Wälder mehr abzuholzen, standen keine Ländereien mehr für die zur Verfügung, die sie urbar machen wollten. Jedes Vakuum hatte sich bereits gefüllt. Dem Individualismus war die Totenglocke geläutet und dem Bereich dessen, was ein Mann mit Mut und Unerbittlichkeit auf der Erde erobern konnte, Grenzen gesetzt worden.
    Doch hier vor ihren Augen machten jung und alt den Boden urbar, um ein paar Weizenhalme zu ziehen, Bäume an einem kahlen Berghang anzupflanzen, einen Graben auszuheben, um ein paar Tropfen Wasser auf ein Feld zu leiten; es wurden Fabriken gebaut, Wohnhäuser errichtet, ein Brunnen gebohrt, ein Weingarten angelegt.
    Doch noch etwas anderes weckte bei den Anstrengungen Israels Hannahs Mitgefühl und führte ihre Gedanken in jene Tage zurück, als die Menschlichkeit in ihr auf der Jagd nach Geld und nach dem Traum ihres Vaters von unbeschränkter Macht noch nicht versteinert war. Kalifornien, Oregon und Washington waren jungfräuliche Paradiese aus Holz, Früchten und Vegetation gewesen.
    Doch Palästina war ein Ziegelstein: neun Zehntel des Landes waren ausgebrannt, kahl und dürr.
    Deshalb mußten die neuen Pioniere dieses Landes — die stämmigen Burschen mit dicken, braunen, oft krummen Beinen und Brustkästen wie Weintonnen, die drallen Mädchen und die alten bärtigen Männer — diesem Boden erst zurückgeben, was ihm geraubt worden war, ehe sie auch nur einen einzigen Grashalm ziehen konnten.
    Nichts war rührender als die kleinen Reihen von Baumsetzlingen, kaum höher als ein Fuß, denen sie am Straßenrand oder an einer Bodenerhebung begegneten; an jeder arbeitete eine Gruppe von Männern; nackt bis zum Gürtel schufteten sie in der glühenden Sonne, trugen

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