Jakob der Reiche (German Edition)
diese Aufgabe erwies sich in den folgenden Wochen als besonders schwierig. Kaum einer der Männer in den Räumen mit den Rechnungsbüchern und den Warenlisten fühlte sich im Gebrauch der arabischen Ziffern sicher genug, um fehlerfrei zu rechnen.
»Du musst Geduld haben«, mahnte Ulrich immer wieder, wenn er sah, wie Jakob mit schmalen Lippen aus der Schreibstube im Haus am Rohr in ihr gemeinsames Kontor zurückkam.
»Es ist die Null«, schimpfte Jakob dann. »Sie wollen einfach nicht begreifen, dass die Null an sich keinen Wert hat und dass man dennoch mir ihr rechnen kann.«
»Wem willst du das verübeln?«, fragte Ulrich zurück. »Die römischen Zahlen kann jeder mit den Fingern nachrechnen. Und wo du eine Null oder auch mehrere davon setzen willst, kennt unsere römische Zählweise seit zweitausend Jahren die drei Buchstaben X für zehn, C für hundert und M für tausend. Und du wunderst dich, wenn nicht in die schwäbischen Dickschädel will, warum X, C und M jetzt mit einer Eins und dann mit einer, zwei oder drei Nullen geschrieben werden soll?«
»Ulrich!«, stöhnte Jakob nur.
»Nein, nein, nicht schon wieder!«, wehrte der sofort ab. »Ich weiß, du hast recht, und wir brauchen die Nullen ebenso wie die doppelte oder vierfache Buchführung. Aber bei aller Strenge solltest du darauf achten, dass sich auch unsere Gehilfen und Schreiber bei uns wohlfühlen. Auch wenn sie ihre Arbeiten gehorsam verrichten müssen, sind sie in gewisser Weise ebenfalls unsere Kunden. Wenn du etwas von ihnen haben willst, musst du es nicht nur befehlen, sondern stets auch ein wenig an sie verkaufen. Sie sollen gern wollen, was sie ohnehin tun müssen, denn dann können sie auch mehr, verstehst du?«
Jakob dachte lange über die Ermahnungen seines Bruders nach. »Zuhören«, hatte Abt Wolfgang in Herrieden immer wieder gesagt. »Ein guter Priester muss ebenso wie ein guter Kaufmann vor allem zuhören und dann hinter die Dinge sehen, um zu erkennen, wonach die arme Seele wirklich fleht.«
Auch während der Fastenzeit lud die Mutter ihre Söhne und Töchter samt Familien ins Haus am Rohr ein. Während draußen noch immer die eisigen Schneewinde wehten, ließ sie innen so wohlig einheizen, dass sogar die Eisblumen an den Gaubenfenstern im Dach schmolzen.
Es waren schöne und glückliche Monate, auch wenn sie alle sehr viel arbeiteten. Da der Handel in dieser Jahreszeit schwächer war, konnten sich Ulrich und Jakob mehr um ihre Zulieferer kümmern. Noch immer arbeiteten hunderte von Familien in Augsburg und in den Dörfern der näheren Umgebung als Weber für die Fugger von der Lilie. Und wie bereits zu Zeiten ihres Urgroßvaters im kleinen Ort Graben am Lech achteten sie darauf, dass nur die beste Barchentarbeit ihr Haspelsiegel erhielt.
Einige Male versuchte Jakob, seinen Bruder für die Neuerungen und Geheimnisse zu begeistern, die er in Venedig und im Fondaco gelernt und gesehen hatte. Doch Ulrich wollte keine neuen Besen.
»Ich muss erhalten, was wir geerbt haben«, sagte er. »Soweit es dir gelingt, magst du die arabischen Ziffern und die doppelte Buchführung verbreiten. Aber gib nie auf, was sich bewährt hat.«
»Aber es muss doch weitergehen!«, entgegnete Jakob. »Was nicht mit der Zeit geht, fällt zurück.«
»Und wer den Vorreiter spielen will, der sollte zuerst lernen, wie man bei Sturm und Regen auf schlechten Wegen sicher im Sattel bleibt«, konterte Ulrich. »Du kannst meinetwegen all deine Ideen ausprobieren. Ich werde dir auch nicht gram sein, wenn der eine oder andere Versuch in einer unserer Faktoreien scheitert. Aber zwei eiserne Bedingungen musst du dabei einhalten …«
»Du wirst sie mir nennen.«
»Sooft es nötig ist!«, bestätigte Ulrich ernst. »Verlass dich niemals darauf, dass schon alles gut gehen wird. Und riskiere nie mehr als das, was wir an Waren oder Geld verschmerzen können, wenn es verloren ist.«
»Mit derartigen Vorschriften wäre Venedig tot, und halb Augsburg säße im Schuldturm.«
Ulrich blickte ihn lange und ernsthaft an. »Großvater Bäsinger musste erleben, wie grauenhaft der Turm von innen aussieht. Und Lukas vom Reh wird auch nicht mehr lange brauchen, bis er sich übernommen hat. Wir aber sollten zusehen, dass uns weder das eine noch das andere passiert.«
»Und wie soll uns mit diesen selbst angelegten Fesseln der Sprung ganz nach oben gelingen?« Jakob richtete sich auf und blickte seinen älteren Bruder schon fast verächtlich an. »Nein, Ulrich!«, sagte
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