Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

über rituelle Lebendbestattungen. Das ist verrückt.«
    »Große Geister streben immer in die gleiche Richtung.«
    Wir begaben uns zu einem größeren Tisch. Sie hörte aufmerksam zu, als ich ihr den Inhalt des Shinners-Vrees-Buchs zusammengefasst wiedergab, dann nahm sie die Monografie von McAllister auf und sagte:
    »Alex, die Forschungsgruppe aus Stanford ist den Spuren Shinners-Vrees gefolgt. Mithilfe seines Buchs gelangten sie in das Sibondoytal, auf der Suche nach Kulten, die halluzinogene Rauschgifte verwenden. McAllister war Professor, die beiden anderen Graduierte, die für ihn arbeiteten. Als sie dort ankamen, fanden sie die Dinge genauso vor, wie sie Shinners-Vree beschrieben hatte: verschiedene kleine Stämme, die am Fuße der Anden verborgen im Dschungel lebten, die Brugmansia züchteten und sie fast in allen Lebensbereichen verwendeten, in religiösen, medizinischen und Mannwerdungszeremonien. Die kolumbianische Regierung plante eine Autobahn durch dieses Gebiet, die den Dschungel zu vernichten drohte, und rottete die Indianer aus, deswegen mussten sie sich mit ihren Forschungen beeilen.
    Levine studierte die biochemischen Unterschiede der einzelnen Brugmansia -Arten. Er fand heraus, dass die ihnen allen gemeinsame bewusstseinsverändernde Grundsubstanz ein anticholinergisches Alkaloid ist, das dem Atropin und dem Skopolamin verwandt ist. Er unterließ es aber, die minimalen Unterschiede zwischen den mutierten Exemplaren zu analysieren, und ich fand auch nichts darüber in seinen späteren Veröffentlichungen. Wahrscheinlich haben seine Untersuchungen zu nichts Weiterem geführt.
    Palmer betrieb ihre Arbeiten mehr kulturell orientiert und kam zu wesentlich genaueren Ergebnissen; das Buch ist ihre Doktorarbeit. Meinen Sie, dass sie ihren Namen an die letzte Stelle setzten, weil sie eine Frau ist?«
    »Das würde mich nicht überraschen.«
    »Gott sei Dank gibt es Feminismus. Jedenfalls beschreibt sie bis in die Details, wie Anticholinergika als gesellschaftliche Kontrollsubstanzen eingesetzt wurden. Sie stellt die Hypothese auf, dass Drogen bei den Indianern göttlichen Rang einnehmen. In den Erläuterungen behauptet sie, dass sich alle Religionen auf Erfahrungen mit bewusstseinsverändernden Substanzen zurückführen lassen. Ziemlich kühne Behauptung. Doch der Kernpunkt, Alex, ist, dass diese Indianer ganz genau wussten, welche ihrer Züchtungen sie einsetzen mussten, um die jeweils gewünschten Symptome hervorzurufen. Das ist also durchaus möglich.«
    »Atropin«, sagte ich. »Ein moderner Hexentrank.«
    »Genau!«, erwiderte sie aufgeregt. »Anticholinergika blockieren die Wirkung von Azethylcholin am Nervenende und steigern die Reizübermittlung. Man kann damit jemanden ganz schön aus der Fassung bringen. Und ein Psychiater würde in einer Routineuntersuchung überhaupt nicht darauf kommen, oder?«
    »Solange das Mittel nicht gebräuchlich ist, kaum. Sind Sie schon mal darauf gestoßen?«
    »Nein, aber ich habe die Verzeichnisse der Psychopharmaka durchgesehen. Bei kleinerer Dosierung wirken Atropin und Skopolamin entspannend, sie werden über den Ladentisch als Schlafmittel oder gegen Allergie verkauft. Sie kennen doch sicher auch die kleinen Pflaster, die man sich gegen Seekrankheit hinter das Ohr klebt. Vor einigen Jahren noch wurden diese Mittel in weitaus höheren Konzentrationen verschrieben, aber dabei kam es zu problematischen Nebenwirkungen. Skopolamin gab man Frauen zur Schmerzlinderung in den Wehen. Man kombinierte es mit Morphium und nannte es Dämmerschlaf. Abgesehen davon, dass dieses Mittel die Föten schädigte, verursachte es bei einigen Patientinnen auch psychotische Anfälle. Mit Atropin als krampfhemmendem Medikament behandelte man die parkinsonsche Krankheit. Es dämpfte zwar das Zittern, aber die Patienten zeigten Anzeichen von Senilität und wurden vergesslich, verwirrt und paranoid. Das war ein großes Problem, bis man synthetische Produkte mit geringeren Nebenwirkungen entwickelte.«
    Scheinbare Senilität. Das erinnerte mich an etwas, aber ich besann mich nicht.
    »Und um die Jahrhundertwende«, fuhr sie fort, »wurden so genannte Anti-Asthma-Zigaretten angeboten, eine Mischung aus Tabak und Belladonna. Sie erweiterten die Bronchien; zu viele Züge verursachten jedoch schlimme Trips: Delirium, Halluzinationen und totalen Verlust der Erinnerung. Das ist ein weiterer wichtiger Punkt: Anticholinergika zerstören das Gedächtnis. Wenn Jamey dadurch gelähmt war, konnte man