Jammerhalde: Tannenbergs siebter Fall
kann auf legalem Wege eigentlich nur von einem Veterinärmediziner bezogen werden.«
»Von einem normalen Arzt nicht?«
»Doch, theoretisch schon. Obwohl T61 nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fällt, würde so etwas jedoch ziemliches Aufsehen erregen. Was bitte soll ein Humanmediziner mit einem reinen Tötungsmittel denn Vernünftiges anstellen?«
»Auch unter deinen noblen Humanmediziner-Kollegen soll es schon den einen oder anderen Mörder gegeben haben.«
»Sicher, Wolf. Aber wir sollten uns besser auf die wahrscheinlichere Variante konzentrieren. Und die verweist nun mal eindeutig auf einen Veterinärmediziner: Bei einem Tierarzt gehört das T61 quasi zur pharmazeutischen Grundausstattung. Schließlich verwendet er es ja auch tagtäglich.«
»Das heißt, wir müssen alle Tierarztpraxen in der Gegend abklappern«, stöhnte Tannenberg. »Geiger, das machst du mal«, sagte er in Kasernenhofmanier. Dann erhob er sich und schleppte sich zur Pinwand. Mit schmerzverzerrtem Gesicht dehnte er seinen verkrampften Oberkörper. Anschließend schrieb er in großen roten Lettern ›T61‹ auf ein Täfelchen. »Wer außer Tierärzten hat noch Zugriff auf dieses Medikament?«
Auf diese Frage schien Dr. Schönthaler nur gewartet zu haben. »Arzthelferinnen, Putzfrauen, Heizungsmonteure, Pharmavertreter, Apotheker, Fabrikarbeiter, Schwarzhändler, Einbrecher …«, kam es wie aus einer Pistole geschossen.
»Es reicht jetzt, Rainer«, blaffte Tannenberg. »Ich denke, es ist nun an der Zeit, ein Täterprofil zu erstellen.«
»Ganz ohne die kompetente Hilfe unserer geschätzten Frau LKA-Kriminalpsychologin? Übernimmst du dich da nicht?«, spottete der Gerichtsmediziner. »Wie geht’s denn deiner ehemaligen Herzdame eigentlich?«
Herzdame – Blödsinn! Das war sie noch nie, nur eine gute Freundin und eine sehr fachkompetente Expertin. Ja, wie geht’s der lieben Eva denn eigentlich?, wiederholte Tannenberg im Stillen. Schon lange nichts mehr von ihr gehört. Wer weiß, vielleicht brauchen wir tatsächlich schon bald ihre Hilfe.
Während er ›Täterprofil‹ auf einen größeren Pappkarton schrieb, grummelte er etwas Unverständliches vor sich hin. »Was wissen wir über unseren Täter?«, fragte er anschließend in die Runde seiner süffisant schmunzelnden Kollegen.
»Er muss auf irgendeine Weise Zugang zu diesem Tötungsarzneimittel haben«, begann Sabrina.
»Gut. Das ist unser erster Punkt«, sagte der Kommissariatsleiter und schrieb diese Feststellung thesenartig auf.
»Außerdem kennt er sich im Wald anscheinend sehr gut aus. Denn er wusste zum Beispiel genau, wo diese Praxe lagerte«, ergänzte ihr Ehemann.
»Richtig, das ist der zweite Punkt für unser Täterprofil«, lobte Tannenberg und drehte sich zu seinen Kollegen um. »Apropos Waldarbeiter. Die Befragungen und Alibichecks dieser Herren sind noch nicht abgeschlossen und haben bislang auch noch nichts Auffälliges ergeben. Sonst hättet ihr mich dies bestimmt schon wissen lassen, nicht wahr? Ebenso gibt es bezüglich Reifenspuren, Lilien et cetera noch nichts Neues, richtig?«
Während alle zustimmend nickten, schellte das Telefon.
»K 1 – Tannenberg«, meldete er sich in einem dahingeknurrten, mürrischen Bürokratenton. Diese barsche Begrüßungsformel diente nicht nur der Abschreckung des Anrufers, sondern spiegelte auch meist die aktuelle Stimmungslage des Kommissariatsleiters wieder. Sein Gesichtsausdruck war stets exakt auf dieses verbale Gebaren abgestimmt.
Doch diesmal verkehrte sich Tannenbergs Mimik in Sekundenbruchteilen ins absolute Gegenteil: Die Augen weiteten sich, eine Unzahl kleiner Lachfältchen gruben sich um Mund- und Augenpartie in die leicht gebräunte Gesichtshaut hinein, die Ohrläppchen begannen zu glühen.
Auch die Klangfärbung seine Stimme war mit einem Male völlig verändert, so als ob irgendwer gerade einen Hebel umgelegt hätte. Der harte, unwirsche Tonfall hatte sich gänzlich verflüchtigt und war durch sanfte Flötentöne ersetzt worden.
»Schön, von Ihnen zu hören«, säuselte er.
Tannenberg nahm Platz, drehte seinen Schreibtischstuhl um 180 Grad und wandte dadurch seinen neugierig dreinblickenden Kollegen den Rücken zu. Einen Moment lang überlegte er, ob er Hanne nicht darum bitten sollte, sie in ein paar Minuten zurückrufen zu dürfen. Doch diesen Gedanken verwarf er sogleich wieder. Die Angst, sie damit möglicherweise zu verkraulen, ließ ihn davor zurückschrecken.
»Lieber Herr Tannenberg«,
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