Jan Fabel 01 - Blutadler
streckte die Hand aus. »Herr Dr. Stern. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns nehmen.«
»Kein Problem.« Stern griff in das Chaos auf seinem Schreibtisch und zog eine Akte hervor. »Ich habe meinen Bericht an die Ortspolizei für Sie kopiert.« Er nickte zu Sülberg hinüber, der gerade eintrat.
»Danke.« Fabel nahm die Akte entgegen, öffnete sie jedoch noch nicht. »Gehe ich recht in der Annahme, dass die Frau mit Rohypnol, der Vergewaltigungsdroge, betäubt wurde?«
»Betäubt, ja. Rohypnol, ja. Aber nicht allein. Wie ich in meinem Bericht ausführe, finden sich nur sehr schwache Spuren von Rohypnol in ihrem Blut. Rohypnol baut sich langsam ab. Es bleibt noch mehrere Stunden nach der Aufnahme im Blutkreislauf.«
»Ist es möglich, dass die Dosis ausreichte, um die Frau benommen zu machen, aber so niedrig war, dass sie inzwischen fast abgebaut ist?«
Susanne schaltete sich ein. »Nein. Selbst wenn es aus dem Blutkreislauf verschwunden ist, kann es als Stoffwechselabbauprodukt noch länger als zweiundsiebzig Stunden nachgewiesen werden.« Sie wandte sich an Stern. »Sie haben wahrscheinlich Urinproben untersucht?«
Stern nickte. »Wir haben ihren Urin auf 7-Aminoflunitrazepam überprüft und nur sehr schwache Restspuren gefunden. Wäre Frau Palmer innerhalb der letzten drei Tage eine starke Dosis Rohypnol verabreicht worden, dann hätten wir, wie Sie erwähnt haben, bedeutendere Spuren entdeckt.«
»Aber ihr wurde irgendeine starke Substanz verabreicht?«, fragte Fabel.
»Auf jeden Fall. Die junge Frau hatte kaum merkliche chemische Verbrennungen, die eher wie Hautentzündungen in Mund und Kehle aussahen. Und als ich sie nach den Klarheitsmomenten in ihrem veränderten Zustand fragte, sprach sie davon, wie wenig Angst sie gehabt habe.«
»Natürlich«, sagte Susanne. »Vermutlich irgendein Cocktail mit Gammahydroxybutyrat?«
»Wahrscheinlich.« Stern zuckte die Achseln. »Aber Gammahydroxybutyrat baut sich so schnell ab, dass ich keine Spuren nachweisen kann.«
»Gamma was?« Das Gespräch wurde zu schnell und zu fachspezifisch für Fabel.
»Verzeihung.« Stern machte eine schuldbewusste Geste. »Gammahydroxybutyrat ... GHB. Auch als Gook oder Zonked bekannt.«
Susanne erläuterte: »Ein Sedativum mit besonders scheußlichen Folgen für das zentrale Nervensystem. Es erfüllt den gleichen Zweck wie Rohypnol, kann jedoch viel gefährlicher sein. Noch vor kurzem wurde es, was man kaum glauben mag, in Bioläden als Bodybuildingmittel verkauft. Im medizinischen Bereich findet es kaum Verwendung, und die Produktion ist größtenteils illegal.«
»Und da man es in Untergrundlabors ohne Kontrollen herstellt«, fuhr Stern fort, »schwankt die Reinheit stark. Die für seine Herstellung und Stabilisierung eingesetzten Chemikalien sind oft hochgiftig.«
»Und Sie meinen, dass die giftigen Chemikalien die Verbrennungen in Michaela Palmers Mund verursacht haben?«, fragte Susanne.
»Ja. Außerdem kann GHB zu zahlreichen Nebenwirkungen führen. Bereits niedrige Dosen können neben Wahnvorstellungen, Halluzinationen und Ohnmachtsanfällen auch Übelkeit, Erbrechen und Schlaganfälle auslösen. Eine weitere Nebenwirkung ist Furchtlosigkeit, wie Frau Palmer sie beschrieben hat. Wenn man ihr eine Mischung aus Flunitrazepam oder Clonazepam und Gammahydroxybutyrat verabreicht hat, ist das Risiko von Atemnot und Bewusstlosigkeit bis hin zum Koma äußerst hoch gewesen. Die Frau hat Glück, dass sie nicht an ein Atemgerät angeschlossen werden musste. Wie Frau Dr. Eckhardt sagte, ist GHB ein besonders scheußliches Produkt. Der Täter hat es in Verbindung mit anderen Drogen benutzt, die eine einander verstärkende Wirkung gehabt haben müssen. Offenbar sollten die Opfer nicht getötet werden, aber es schien nicht besonders darauf anzukommen, ob sie die Erfahrung überlebten.«
»Und GHB wird in der Szene vorwiegend als Vergewaltigungsdroge hergestellt?«, fragte Fabel.
»Nein. Es ist in der Club- und Rave-Szene allgemein beliebt. Dort wird es häufig als Downer benutzt, um die Leute von Ecstasy- und Kokain-Highs herunterzubringen. Ihre Rauschgiftabteilung dürfte in der Hamburger Club-Szene schon oft darauf gestoßen sein.«
»Ist es geschmacklos wie Rohypnol?«
»Fast. Wenn es mit Wasser verdünnt wird, hat es einen leicht salzigen Geschmack. Deshalb ist eine der Szenebezeichnungen auch ›Salty Water‹. Außerdem kann es in einem alkoholischen Getränk verabreicht werden, was seine Wirkung verstärkt, oder
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