Jan Fabel 01 - Blutadler
möchte.«
Anna zuckte die Achseln, und MacSwain bezahlte, als der Drink eintraf. Sie versuchte, entspannt, fast gleichgültig zu wirken, aber ihre Gedanken überschlugen sich. Observation war zu Undercover geworden, und darauf hatte sie sich nicht eingestellt. Ihre einzige Unterstützung war der dürftige Blickkontakt mit Paul, und schließlich konnte MacSwain der Wahnsinnige sein, der Frauen zum Spaß in Stücke riss. Konzentrier dich, Anna, schärfte sie sich ein. Atme langsam und ruhig. Lass ihn nicht merken, dass du Angst hast. Sie nippte an dem Bourbon mit Ginger Ale. »Ich hab dich hier noch nie gesehen«, sagte MacSwain.
Anna fragte mit spöttischer Miene: »Was Besseres fällt dir nicht ein?«
»Ich hab's ernst gemeint. Ich will mich unterhalten, Anmachsprüche interessieren mich nicht.« Anna entdeckte die Spur eines ausländischen Akzents. Sein Deutsch war perfekt, wenn auch ein wenig steif, und der Akzent ließ sich nur mühsam wahrnehmen.
»Bist du Ausländer?«, fragte sie unverblümt.
MacSwain lachte. »Merkt man das so deutlich?«
»Allerdings«, erwiderte Anna und nahm einen weiteren Schluck von ihrem Drink. Das hat dir bestimmt nicht gefallen, oder?, dachte sie. MacSwain war es offensichtlich gewohnt, dass Frauen an jedem seiner Worte hingen.
Resignierte Höflichkeit breitete sich in seiner Miene aus. »Lass dir deinen Drink schmecken«, sagte er. »Tut mir Leid, dich belästigt zu haben.« Damit setzte er sich in Bewegung.
Verflucht, dachte Anna, was nun? Wenn er weggeht, kann ich ihn nicht für den Rest des Abends im Auge behalten. Lass dir was einfallen. »Ich bin Freitagabend hier, wenn du mich zu noch einem Drink einladen willst«, sagte sie, ohne ihn anzuschauen. »Gegen halb neun.«
Sie drehte sich ihm zu. Vielleicht war Freitag zu weit entfernt, vielleicht hätte sie morgen Abend vorschlagen sollen. Aber wenn Fabel dieser spontanen Idee zustimmen sollte, würden sie Zeit brauchen, um einen Plan und ein Reserveteam aufzustellen.
MacSwain bedachte sie erneut mit einem Lächeln. »Ich werde hier sein. Aber nun bin ich auch hier.«
»Nichts zu machen«, sagte Anna. »Habe heute Abend was vor.«
»Also dann Freitag um halb neun.« Er machte keine Anstalten, sich zu entfernen.
Anna trank ihren Drink zu rasch aus, sodass er ihr die Speiseröhre zu verbrennen schien. Wieder ließ sie sich nichts anmerken. »Bis dann.«
Sie spürte MacSwains Augen in ihrem Rücken, während sie an Paul vorbeikam und ihm einen Blick zuwarf. Paul verstand das Zeichen: »Du bist jetzt allein.« Er stand auf, trat an das Stahlgeländer, das die Tanzfläche umgab, drückte sich an Anna vorbei, ohne sie anzusehen, und schob ihr die Autoschlüssel in die Hand.
Anna saß zwei Stunden lang in der Enge des Wagens, bevor MacSwain zum Parkhaus am Spielbudenplatz zurückkehrte. Er hatte eine hoch gewachsene attraktive Blondine bei sich, die sich alle paar Schritte kichernd an ihn schmiegte und ihn küsste.
Aha, dachte Anna, du betrügst mich also schon.
Paul folgte den beiden in einiger Entfernung. Auf dem Spielbudenplatz waren noch einige Nachteulen unterwegs, und Paul sorgte dafür, dass sich mehrere zwischen ihm und seinem Ziel befanden. Anna ließ sich tief in den Sitz sinken, als MacSwain und seine Trophäe auf der anderen Seite vorbeigingen und das Parkhaus betraten. Paul schlüpfte auf den Beifahrersitz. »Was meinst du? Sollte ich zu Fuß reingehen und ihn im Auge behalten?«
»Nein. Dann könnten wir ihn bei der Ausfahrt verlieren. Wir müssen sichergehen, dass seine Freundin nach Hause kommt.«
Paul lachte bitter. »Na, das war vielleicht ein Mist. Deine Tarnung ist völlig zum Teufel gegangen.«
»Ich würde nicht sagen, dass es ein totaler Fehlschlag war«, antwortete Anna mit einem selbstzufriedenen Lächeln. »Schließlich bin ich dadurch zu einem Date gekommen.«
Polizeipräsidium Hamburg,
Dienstag, den 17. Juni, 11.00 Uhr
Fabel hatte Schatten unter den Augen, die tiefer in seinen Schädel eingesunken zu sein schienen. Die einzigen anderen Zeichen des Überfalls waren die bronzene und purpurne Quetschung an der Seite seines Halses und die Steifheit, mit der er den Kopf bewegte. Deshalb neigte er dazu, die Schultern in seine jeweilige Blickrichtung zu verlagern. Nachdem man ihn an jenem Morgen um halb neun entlassen hatte, war er nach Hause gefahren, um den Krankenhausgeruch unter der Dusche abzuwaschen und seine Kleidung zu wechseln. Seit einer Stunde las er die
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