Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
Vierteljahrhunderts bei ihr bewirkt hatte, bildete einen fast unerträglich deprimierenden Kontrast zur Vergangenheit. Und damit kehrte der alte Drang in ihm wieder, sich so weit wie möglich von Norddeich und Norden zu entfernen.
Fabels Mutter saß auf einem Stuhl neben ihrem Bett und schaute sich eine Talkshow im Fernsehen an, als er das Zimmer betrat. Der Ton war abgestellt, und Thomas Gottschalk grinste und plauderte stumm. Sie lächelte freundlich und schaltete den Apparat über die Fernbedienung ab.
»Hallo, Junge. Du siehst müde aus.« Ihre Aussprache war eine fast komische Kombination aus ihrem britischen Akzent und dem starken Frysk-Einschlag, mit dem sie Deutsch sprach.
Er beugte sich zu ihr hinab, um ihr die Wange zu küssen. Sie tätschelte seinen Arm. »Mir geht’s bestens, Mutti. Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Und was dich betrifft, so scheint es nur positive Nachrichten zu geben. Die Schwester sagt, dein EKG sei normal und du könntest vielleicht schon morgen entlassen werden.«
»Du hast mit Hilke Freericks gesprochen? Ihr beide wart doch einmal ein Paar, wenn ich mich nicht irre.«
Fabel setzte sich auf den Rand des Bettes. »Das ist sehr, sehr lange her, Mutti. Ich habe sie zuerst gar nicht erkannt.« Wieder kontrastierte das Bild Hilkes, deren langes, rotgoldenes Haar in der hellen Sonne eines fernen Sommers glänzte und deren Haut durchsichtig zu sein schien, mit dem der altbackenen, nicht mehr jungen Frau, mit der er sich auf dem Korridor unterhalten hatte. »Sie hat sich verändert.« Er zögerte. »Habe ich mich auch so sehr verändert, Mutti?«
Seine Mutter lachte. »Das darfst du nicht mich fragen. Du und Lex, ihr seid immer noch meine Babys. Aber ich würdemich davon nicht aus der Fassung bringen lassen. Wir alle verändern uns.«
»Immer wenn ich herkomme, erwarte ich einfach, dass alles beim Alten geblieben ist.«
»Das liegt daran, dass dies hier eine Vorstellungswelt für dich ist, ein Ort deiner Vergangenheit und keine Realität. Du kehrst hierher zurück, um deine Erinnerungen aufzufrischen. Früher habe ich genau das Gleiche getan, wenn ich zurück nach Schottland gereist bin. Aber die Dinge ändern sich, die Umgebung ändert sich. Die Welt schreitet fort.« Sie lächelte, streckte die Hand aus und fuhr sanft durch das Haar an seiner Schläfe. Sie kämmte es mit den Fingern wie früher, als er noch ein Schuljunge war. »Was macht Gabi? Wann kommst du mich mit meiner Enkelin besuchen?«
»Bald, hoffe ich«, sagte Fabel. »Es ist geplant, dass sie für ein Wochenende zu mir kommt.«
»Wie geht’s ihrer Mutter?« Seit dem Scheitern der Ehe hatte Fabels Mutter seine Exfrau Renate nie mehr beim Namen genannt. Auch jetzt konnte er hören, wie sich Eis in ihrer Stimme kristallisierte.
»Ich weiß nicht, Mutti. Ich spreche selten mit ihr, und wenn ich’s tue, ist es nie sehr erfreulich. Egal, lass uns nicht über Renate reden. Das verdirbt dir nur die Stimmung.«
»Und was ist mit deiner neuen Freundin? Na ja, inzwischen nicht mehr ganz so neu. Du bist schon ziemlich lange mit ihr zusammen. – Ist es ernst?«
»Was… mit Susanne?« Er wirkte einen Augenblick lang verblüfft. Es war weniger die Frage, die ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, als die plötzliche Erkenntnis, dass er die Antwort nicht kannte. Er zuckte die Achseln. »Wir kommen gut miteinander aus. Sehr gut.«
»Ich komme sehr gut mit Herrn Heermans, dem Schlachter, aus, aber das bedeutet nicht, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben.«
Fabel lachte. »Ich weiß nicht, Mutti. Die Sache ist noch offen. Sag mir lieber, was der Arzt dir zu tun empfohlen hat, wenn du entlassen wirst…«
Fabel und seine Mutter verbrachten die folgenden beiden Stunden damit, sich in aller Ruhe zu unterhalten. Dabei betrachtete er seine Mutter aufmerksamer als seit langem. Wann war sie so alt geworden? Wann war ihr Haar weiß geworden, und warum hatte er es nicht bemerkt? Er dachte über ihre Worte nach, dass Norddeich eine Vorstellungswelt für ihn sei, und ihm wurde bewusst, dass seine Mutter ebenfalls eine Vorstellung war, eine Konstante, von der man nicht erwartete, dass sie sich je änderte oder alterte. Oder gar starb…
Es war 22.30 Uhr, als Fabel wieder das Haus seiner Mutter erreichte. Er holte sich ein Jever aus dem Kühlschrank und nahm es mit hinaus in den kühlen Abend. Er ging zum Ende des Gartens, durch die niedrige Pforte und zu der Baumgruppe. Dann kletterte er die steile Grasböschung des
Weitere Kostenlose Bücher