Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
Der Drecksack wollte wohl auch noch witzig sein.
»Es war richtig von Ihnen, uns zu benachrichtigen, Kommissar Hermann. Sie könnten die Distanz zwischen uns und einem Serienmörder verringert haben, der, wie wir nun wissen, schon einmal – oder vielleicht zweimal – zugeschlagen hat.« Hermann strahlte vor Genugtuung. Fabel erwiderte sein Lächeln nicht. »Nun möchte ich, dass sich Ihr gesamtes Team zu einer Einsatzbesprechung auf dem Parkplatz versammelt. Wir müssen das ganze Gelände durchkämmen und den Tatort finden.«
12.
Hamburg-Blankenese, Sonntag, 21. März, 10 Uhr
Sie saß auf ihrem Stuhl und wurde älter. Sie saß aufrecht und reglos und lauschte dem Ticken der Uhr. Jede Sekunde glich einer Welle, die ihre Jugend und Schönheit fortschwemmte. Und ihre Schönheit hatte nicht ihresgleichen. Laura von Klosterstadts feine Eleganz war über jede vergängliche Mode erhaben, die bald mädchenhaft schmale, bald üppigere Figuren bevorzugte. Sie war eine wahre Schönheit: von zeitloser, eisiger, grausamer Perfektion. Ihr Aussehen brauchte nicht von einem Fotografen »entdeckt« zu werden, sondern hatte sich über Generationen herausgebildet. Und es hatte sich als äußerst vermarktungsfähig erwiesen – eine Eigenschaft, für die Modehäuser und Kosmetikfirmen hohe Summen bezahlten.
Der Grad von Lauras Schönheit entsprach dem ihrer Einsamkeit. Es fällt durchschnittlichen Menschen schwer, sich vorzustellen, dass Schönheit genauso abstoßen kann wie Hässlichkeit. Hässlichkeit erzeugt Abscheu, während große Schönheit Furcht auslöst. Lauras Äußeres ließ einen Zaun um sie herum entstehen, den wenige Männer zu überwinden wagten.
Sie saß da und merkte, wie sie alterte. In einer Woche würde sie 31 Jahre alt werden. Ihr Agent Heinz sollte bald erscheinen, um ihr bei den Vorbereitungen für die Party zu helfen. Er würde dafür sorgen, dass alles glatt ging. Heinz war ein extravaganter, überschäumender Homosexueller, der grenzenlose Energie mit stählerner Entschlossenheit und Tüchtigkeit verband. Und er war nicht nur ein guter Agent, sondern wohl auch der einzige wirkliche Freund, den Laura hatte. Sie wusste, dass seine Anteilnahme an ihrem Leben über »die Betreuung des Stars« hinausging, und er war der Einzige, der Lauras Abwehrwall zu durchdringen vermochte und das Ausmaß ihrer Trauer kannte. Sehr bald würde die Villa von Heinz’ Temperament erfüllt sein, doch vorläufig war noch alles still.
Das Zimmer, in dem Laura saß, war einer von zwei Orten, an die sie sich gewöhnlich zurückzog. Beide befanden sich in ihrer riesigen Blankeneser Villa: dieser große, lichtdurchflutete und bewusst funktionslose Raum mit dem harten Stuhl, dem Hartholzboden und den weißen Wänden; und der Swimmingpool, der sich an der Seite des Hauses über den Hang erstreckte. Wer sich dem mächtigen Panoramafenster am Ende des Pools näherte, hatte das Gefühl, in den Himmel hinein zu schwimmen. Das waren die Orte, an denen Laura von Klosterstadt sich selbst begegnete.
Das Zimmer war leer, abgesehen von dem unnachgiebigen Stuhl, auf dem sie saß, und einem Schrank an der Wand. Die darauf stehende CD -Anlage war der einzige Komfort, den sie hier zugelassen hatte.
Es war ein helles Zimmer. Wegen dieses Raumes war sie hierher gezogen. Er hatte eine hohe Stuckdecke, die von schmuckvollen Leisten umrahmt war, und durch das ausladende Erkerfenster fiel Licht in alle Winkel. Ideal für ein Kinderzimmer, hatte sie gedacht, und in jenem Moment hatte sie beschlossen, die Villa zu kaufen.
Aber es war kein Kinderzimmer. Sie hatte es nüchtern und weiß gelassen und seine Helligkeit in etwas Steriles verwandelt. Hier ließ Laura sich nieder und dachte über ein zehnjähriges Kind nach, das nicht existierte. Das nie wirklich existiert hatte. Laura saß auf dem unbequemen Stuhl in dem sterilen weißen Zimmer und stellte sich vor, wie es mit bunten Farben und Spielzeug hätte aussehen können. Mit einem Kind darin.
Doch es war besser so. Laura war durch ihre Erfahrung mit ihrer eigenen Mutter zu der Überzeugung gelangt, dass ihr eigenes Elend, hätte sie selbst ein Kind gehabt, einfach nur an die nächste Generation weitergegeben worden wäre. Nicht, dass Lauras Mutter sie grausam behandelt hätte. Sie hatte ihre Tochter nicht geschlagen und nicht bewusst gedemütigt. Margarethe von Klosterstadt hatte schlicht nie sonderlich viel für sie empfunden. Manchmal hatte Margarethe sie auf beunruhigende, leicht missbilligende
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