Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
Persönlichkeit, sondern mit der literarischen Gestalt in Verbindung bringt. Genau darum dreht sich Weiss’ Theorie schließlich.« Fabel schwieg einen Moment lang. »Ich bin auch dabei, die Werke der Brüder Grimm durchzusehen. Ich wusste, dass sie eine Menge Volksmärchen gesammelt haben, aber ich hatte keine Ahnung, wie viele es wirklich waren. Und dazu noch all die Mythen und Sagen.«
Otto nickte mit seinem mächtigen Kopf. »Sie waren sehr fleißig und begabt. Und ein starkes Team. Ihre Arbeit über die deutsche Sprache im Besonderen und über die Philologie im Allgemeinen war, wie du weißt, bahnbrechend. Und sie übt immer noch einen Einfluss aus. Sie haben die Mechanik der Sprache definiert, die Art und Weise, wie sich Sprachen entwickeln und Elemente voneinander entlehnen. Die Ironie ist, dass sie als Autoren von Erzählungen, die sie gar nicht geschrieben haben, in Erinnerung bleiben. Zugegeben, sie haben die späteren Versionen bearbeitet und sie ein wenig umgeschrieben… damit sie genießbarer wurden.«
»Mmm, ich weiß…« Susanne nahm einen Schluck Wein und stellte ihr Glas ab. »Als Psychologin finde ich Märchenfaszinierend. Sie enthalten so viele tiefgründige Dinge. Oftmals sexueller Art.«
»Genau.« Otto strahlte Susanne an. »Die Brüder Grimm waren keine Schriftsteller, sondern Aufzeichner – Folkloristen und Philologen, die durch abgelegene Teile von Hessen, Nord- und Mitteldeutschland reisten, um alte Volksmärchen und Sagen zu sammeln. Zuerst schrieben sie die überlieferten Geschichten, die sie zusammenstellten, nicht um und schmückten sie nicht aus. Die meisten Geschichten waren ursprünglich nicht so gemütlich, wie sie in späteren Ausgaben erschienen, und nicht so abstoßend süßlich wie ihre späteren Darstellungen durch Disney und andere. Doch als ihre Sammlungen Bestseller wurden und besonders, als sie Kindermärchen herausgaben, entfernten oder glätteten sie einige der dunkleren oder auch sexuellen Elemente.«
»Deshalb haben wir alle immer noch ein bisschen Angst vor Märchen«, sagte Susanne. »In unserer Kindheit hören wir sie als Gutenachtgeschichten, aber in Wirklichkeit sind sie Warnungen und Anweisungen, wie man alle möglichen Gefahren und bösen Dinge meidet. Und es geht auch um die Gefahren im Bekannten und Vertrauten. Im eigenen Zuhause. Die Bedrohung durch das Vertraute ist ein genauso wichtiger Teil dieser Märchen wie die Furcht vor dem Unbekannten. Und komischerweise ist die böse Stiefmutter eines der häufigsten Motive in solchen Geschichten.«
»Weiss behauptet, diese Volksmärchen seien die fundamentalen Wahrheiten hinter unseren Ängsten und Vorurteilen. Oder wie Susanne gesagt hat, hinter unserer Psyche.« Fabel hob eine Gabel mit Tagliatelle an den Mund. »Er meint, sobald wir uns hinsetzen, um einen Roman zu lesen oder uns einen Film anzusehen, hätten wir es, besonders wenn sie von etwas Bedrohlichem handeln, in Wirklichkeit nur mit einer Nacherzählung dieser Märchen zu tun.«
Otto nickte heftig und deutete mit seinem Messer auf Fabel.»Ja, da ist etwas dran. Heißt es nicht, dass es nur vier grundlegende Geschichten gibt, die wir erzählen können… oder sind es sechs?« Er zuckte die Achseln.
»Wie auch immer«, sagte Fabel. »Das alles hängt auf eine seltsame Art mit einem Fall zusammen, an dem ich arbeite. Also ist es etwas Berufliches in der Freizeit. Und das ist streng verboten.«
»Meinetwegen«, sagte Otto mit einem schadenfrohen Grinsen. »Nur noch ein letztes Wort: Ich kann verstehen, weshalb Jan sich für Märchen interessiert…« Susanne zog fragend eine Augenbraue hoch. »Die Schöne…« – Otto hob sein Glas in Susannes und dann in Fabels Richtung – »…und das Biest.«
28.
Hamburg-Blankenese, Sonntag, den 28. März, 23.20 Uhr
In dem überdachten Schwimmbad war es dunkel und still, und das Wasser lag ungekräuselt in der Nacht da. Laura zog sich in der Umkleidekabine aus und blieb nackt vor dem Spiegel stehen. Ihre Haut war noch immer makellos, ihr Haar hatte seinen goldenen Schimmer nicht verloren, und ihr Körper war geschmeidig und glatt. Sie hatte so viel für die Pflege dieses Körpers und dieses Gesichts geopfert. Nun betrachtete sie das Ideal weiblicher Vollkommenheit, für das viele Fotografen und Modefirmen eine Menge Geld bezahlt hatten. Sie legte sich die Handfläche auf den Bauch. Er war flach und straff, denn er hatte nie anschwellen und sich dehnen müssen. Sie schaute hinunter auf ihre eigene Perfektion
Weitere Kostenlose Bücher