Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
Konstruktionstechnik. Nun, knapp ein Jahrhundert später, stand das Gebäude immer noch. Es hatte das Scheitern des vergangenen Jahrhunderts, die Spaltung und die Wiedervereinigung Deutschlands erlebt. Der riesige Wasserturm war nun das Planetarium und das berühmteste Wahrzeichen von Winterhude.
Fabel musterte das ausladende Parkgelände vor dem Planetarium. In zweihundert Metern Entfernung zog sich ein provisorischer Zaun aus Metallpfählen dahin, die mit Polizeiband verbunden waren. An der einen Seite hatte sich eine Reihe von Polizisten aufgestellt, an der anderen sammelte sich eine Menschenmenge.
»Es scheint, als wäre der Name des Opfers schon bekannt.« Maria Klee stellte sich neben Fabel auf die Stufen. »Kein Zweifel, dass wir die Presse und das Fernsehen bald hier haben werden.«
Sie gingen hinunter auf den Rasen. Das Spurensicherungsteam hatte ein großes weißes Zelt aufgeschlagen, um den Ort des Geschehens abzuschirmen. Fabel und Maria zogen sich Überschuhe an, die ihnen ein Techniker reichte, bevor sie die Zeltklappe öffneten und eintraten. Holger Brauner war über die Leiche gebeugt und stand nun auf. Eine junge Frau lag nackt auf dem Gras. Ihre Beine waren zusammengepresst und ihreHände vor der Brust gefaltet. Ihr Haar hatte einen herrlichen Goldton. Jemand hatte es gebürstet und wie einen Sonnenkranz um ihren Kopf herum ausgebreitet. Fabel bemerkte, dass ein kleiner Teil des aufgefächerten Haares abgeschnitten worden war, sodass sich eine Lücke bildete. Selbst im Tod waren das Gesicht der Frau und ihr vollkommen geformter Körper von außerordentlicher Schönheit. Ihre Augen waren geschlossen. Eine rote Rose lag zwischen ihren gefalteten Händen und ihren Brüsten, und man hätte glauben können, dass sie schlief. Fabel schaute auf die perfekte Form von Knochen und Fleisch hinunter, die bald zusammenfallen und zu Staub werden würde. Vorläufig jedoch schien die Blässe des Todes ihrer Gesichtshaut nur eine porzellanartige Makellosigkeit zu verleihen.
»Ich brauche sie euch wahrscheinlich nicht vorzustellen«, sagte Holger Brauner und hockte sich wieder neben die Leiche.
Fabel lachte leise und bitter. Er hatte Mühe gehabt, die Identität des ersten Opfers festzustellen, doch dieses würde solche Probleme nicht aufwerfen. Fast jeder in Hamburg kannte diese Frau, und auch Fabel wusste sofort, dass er Laura von Klosterstadt vor sich hatte, das »Supermodel«, das überall in Deutschland auf Reklamewänden und in Zeitschriften zu bewundern war. Die Prominenz der Familie von Klosterstadt gründete sich nicht auf ihren längst bedeutungslos gewordenen Adel, sondern auf ihren gegenwärtigen geschäftlichen und politischen Einfluss. Die Sache würde problematisch werden. Außerhalb des Zeltes braute sich bereits ein Medienansturm zusammen, und Fabels Radar nahm wahr, dass sich ihm höchste Chargen mit großer Geschwindigkeit näherten. »Mein Gott«, knurrte er. »Ich hasse Prominentenmorde.«
»Und wie wäre es mit einer Prominenten, die von dem Serienmörder, den du suchst, getötet worden ist?« Brauner reichte Fabel eine durchsichtige Spurensicherungstüte. Sie enthielt einen winzigen gelben Zettel.
»Auch das noch«, sagte Fabel. »Bitte nicht.«
»Ist leider so.« Brauner erhob sich. »Der Zettel lugte aus ihren Händen hervor. Deshalb habe ich dem ersten Team, das hier eintraf, vorgeschlagen, dich anzurufen. Das ist wieder derselbe Täter, Jan.«
Fabel musterte den Zettel durch die Klarsichthülle. Das gleiche Papier. Die gleiche winzige, obsessiv säuberliche Schrift in roter Tinte. Diesmal stand nur ein Wort darauf: »Dornröschen«.
»Seht euch das an.« Brauner deutete auf die Hand der toten Frau, die die Rose gehalten hatte. Ein Dorn war tief in das Fleisch des Daumens gestochen worden. »Kein Blut. Das ist bewusst nach dem Tod gemacht worden.«
»So fiel Dornröschen in den Schlaf. Sie stach sich den Daumen.«
»Ich dachte, mit einer Spindel, nicht mit einer Rose«, meinte Maria.
Laura von Klosterstadt lag so still da, dass Fabel fast erwartete, sie werde einen zufriedenen, schläfrigen Seufzer ausstoßen und sich auf die Seite rollen. »Er mischt Metaphern… oder verdichtet Handlungselemente, wie man’s nimmt. Dornröschen stach sich tatsächlich an ihrem fünfzehnten Geburtstag mit einer Spindel in den Daumen, und während sie schlief, wurde das Schloss von einer Dornenhecke überwuchert. – Ein schöner, aber undurchdringlicher Schutz. Das Planetarium steht vermutlich
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