Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
XYY -Syndrom zur Kriminalität beiträgt. Die Debatte begann mit einem Serienmörder namens Richard Speck in den Vereinigten Staaten… in Chicago, glaube ich. Er brachte in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts acht Krankenschwestern um und bat dann wegen seines XYY -Genotyps um Milde. Später stellte sich heraus, dass er falsch diagnostiziert worden war, und damit geriet die ganze XYY -Diskussion für eine Weile in Misskredit. Es gibt viele XYY -Männer, die gut damit fertig werden. Ich habe einen hoch geachteten Psychologen gekannt, der an dem Syndrom litt. Er hatte Strategien, um die damit verbundenen Schwierigkeiten zu bewältigen, hauptsächlich im Hinblick auf seinen Jähzorn.«
»Und wir können nicht sicher sein, dass Olsen ein XYY -Mann ist«, setzte Fabel hinzu. »Soweit uns bekannt ist, hat er sich nie einem Karyotyp-Test unterzogen. Aber wir wissen aus eigener Erfahrung, dass er extrem gewalttätig sein kann und sich auch nicht scheut, Polizeibeamte zu verletzen. Und wenn er der Täter ist, hat er die Kraft, einen anderen Mann mühelos zu überwältigen und ihm die Kehle mit einem einzigen Schnitt zu durchtrennen.«
Fabel bemerkte, dass Susanne ihre Brille abgesetzt hatte und sie nachdenklich in den Händen drehte. »Frau Doktor?«
»Entschuldigung. Ich dachte gerade, dass genau das nicht zu dem Ganzen passt. Wenn Olsen ein XYY -Mann ist, dann ist er vermutlich auch sehr unbeherrscht. Der typische XYY -Mann, der eine Gefängnisstrafe erhält, wird wegen der Misshandlung seiner Frau oder wegen anderer Tätlichkeiten auf Grund mangelnder Selbstbeherrschung verurteilt. Als er Kriminaloberkommissar Meyer niederschlug, wandte er eine unnötige, übertriebene Gewalt an. Deshalb meine ich, dass wir,wenn er der Mann wäre, Spuren maßloser Wutausbrüche sehen würden: wiederholte Messerstiche etwa, darunter auch nach dem Tod zugefügte Wunden. Ein einziger Schnitt durch die Kehle passt nicht dazu.«
»Aber das würde ihn nicht ausschließen?«
»Nein. Wahrscheinlich nicht.«
Fabel schlug den vor ihm liegenden Ordner auf. Nicht nur Susannes Vorbehalte ließen eine Alarmglocke tief in seinem Innern schrillen. Wenn Olsen Hanna Grünn und Markus Schiller ermordet hatte, musste es ein Verbrechen aus Leidenschaft gewesen sein – aus eifersüchtiger Wut. Und das ließ sich nicht mit der seltsamen Anordnung der Leichen vereinbaren. Hinzu kamen das Mädchen, das am Blankeneser Strand gefunden worden war, und dieser neueste Mord. Alle Opfer hatten Zettel in der Hand gehabt, die, jedenfalls auf den ersten Blick, von derselben Person geschrieben worden waren.
Als hätte sie Fabels Gedanken erraten, warf Maria ein: »Ich bin nicht überzeugt, dass es Olsen ist. Meiner Meinung nach wird er sich im Moment schön unauffällig verhalten, denn schließlich sucht die halbe Hamburger Polizei nach ihm.«
»Ich weiß nicht, Maria. Er ist bisher unser Hauptverdächtiger, aber ich kann ihn nicht durchschauen. Oder vielleicht ist das Problem gerade, dass ich ihn durchschaut habe. Ich erwarte dauernd, dass mehr an Olsen dran ist, als es den Anschein hat. Vielleicht stimmt das nicht. Möglicherweise ist weniger an ihm dran. Wir können ihn mit den Morden im Naturpark in Verbindung bringen, das steht fest. Er hat dort gelauert und auf die beiden gewartet. Wir haben seinen Stiefelabdruck und einen Abdruck der Reifenspur seines Motorrads. Demnach müsste er in diesem Fall der Mörder sein. Aber ich sehe keine Beziehung zwischen ihm und den beiden anderen Morden. Oder zu der Brüder-Grimm-Thematik.« Er wandte sich an Susanne. »Warum sollte Olsen zwei Morde mit einem Motiv und zwei ohne ein Motiv begehen?«
»Es gibt keinen motivlosen Mord. Selbst die zufälligsten Gewalttaten werden durch einen Wunsch oder ein Bedürfnis ausgelöst. Es könnte sein, dass es aus Olsens Sicht keine Verbindung zu den beiden anderen Morden gibt oder höchstens die, dass er sich auf einer Art Kreuzzug, inspiriert durch die Brüder Grimm, befindet. Dann hat er Grünn und Schiller möglicherweise umgebracht, weil es ihm gefiel, unterschiedliche Motive miteinander zu verknüpfen. Oder um sozusagen das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.«
»To kill two birds with one stone«, kommentierte Fabel. Die anderen starrten ihn verständnislos an. »Egal.« Er blickte auf die Akte hinunter. Auf Olsens fast sympathisches Gesicht. »Vielleicht sind die anderen Opfer nicht so zufällig ausgewählt worden, wie wir zuerst dachten. Vielleicht sucht
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