Jane Christo - Blanche - 01
unbändige Kraft aufsteigen, die ihr in dieser Situation unnatürlich vorkam. Bevor sie sich darüber wundern konnte, war der Typ mit der Huskystimme über ihr. Wie es aussah, hatten ihre Bewegungen sie verraten.
„Sieh einer an, Schneewittchen ist aufgewacht. Dein Schädel ist dicker als ich dachte.“
Na schön, dann konnte sie auch die Augen öffnen. Sie blinzelte und stellte fest, dass sie sich in einem Warenlager befand. Vermutlich irgendwo zwischen der Rue des Martyrs und der Rue Lepic. Nachdem sie den Raum mit gleichmütigem Blick gescannt hatte, erlaubte sie sich, ihren Kerkermeister anzusehen.
Schlagartig wurde ihr Hals eng. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ihr Herzschlag dröhnte in den Ohren und für einen schrecklichen Augenblick fürchtete sie, sich übergeben zu müssen. Sie musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbringen, eine unbewegte Miene zu wahren, denn vor ihr stand die Inkarnation ihres Albtraums aus Kindertagen. Und er sah noch genauso aus wie vor zehn Jahren. Sein goldblondes Haar war länger und fiel ihm ins Gesicht. Die blauen Augen blickten siegessicher auf sie herab, den Mund hatte er zu einem kalten Grinsen verzogen. Seinen albernen weißen Anzug hatte er gegen Ermenegildo Zegna eingetauscht, die übliche Mafia-Kluft, nur dass er nicht wie ein Mafioso aussah. Eher wie ein Hollywoodstar. Dazu passte das Whiskeyglas in seiner linken Hand, dessen goldener Inhalt verdächtig nach Jack Daniels aussah. Was denn, kein Wodka?
„Du hast keine Ahnung, wie lange ich auf diesen Augenblick gewartet habe“, flüsterte er mit leichtem russischen Akzent und hockte sich vor sie. Sein Zeigefinger fuhr liebkosend über ihre Wange.
„Tsss“, machte er und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Das einzige Blut, das ich auf deinem hübschen Gesicht sehen will, ist dein eigenes.“
Du mich auch!
, dachte sie und nahm den Raum in sich auf, solange sie noch Gelegenheit hatte. Es gab nur einen Ausgang, den eine kompakte Metalltür blockierte. Die Fenster befanden sich hoch über ihr und waren vergittert. Blieb die Lüftung – nur gab es keine. So viel zu ihrer Glückssträhne. Die Frage war auch, wann seine Kumpel zurückkommen würden. Mit ihm allein konnte sie es aufnehmen, immerhin hatte sie die Beretta im Rücken. Mit seinen Schlägern im Hintergrund sah die Sache schon anders aus, denn die Jetfire verfügte nur über neun Schuss.
Zoey zog ein Taschentuch aus seinem Jackett, tunkte es in den Whiskey und wischte ihr Gesicht ab. Es hätte eine zärtliche Geste sein können, doch seine Augen verrieten ihn. Sie waren so eisig, wie Blanches innere Verfassung. Immer wieder tauchte er das Tuch ins Glas, dessen Inhalt sich allmählich rot färbte, und befreite sie von Beliars Dämonenblut.
„Dein Mentor und mein Vater waren gute Freunde, weißt du“, begann er im Plauderton und stellte den Whiskey, oder was davon noch übrig war, auf den Boden.
Mit einem Mal summte es in ihren Ohren, ihr war, als würde sie statisch aufgeladen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, während sich ihre Muskeln anspannten. Eine angenehme Wärme hüllte sie ein, überflutete sie regelrecht. Was zur Hölle war mit ihrem Körper los? Zoey bemerkte nichts von alldem, er war zu sehr damit beschäftigt, ihr seine Geschichte zu erzählen, doch sie hörte nur mit halbem Ohr zu. Ihr Körper prickelte vor Energie, als wäre sie an eine gigantische Steckdose angeschlossen. Eine neue Kraft breitete sich aus, die ihr Sehvermögen drastisch verschärfte. In Anbetracht ihres Falkenblicks wäre sie nicht überrascht gewesen, wenn sich ihre Pupillen zu Schlitzen verengt hätten.
„… deswegen glaubte der gute Wayne, eine Rechnung mit meinem Vater offen zu haben“, führte Zoey aus, als sie sich wieder in den Monolog einloggte. „Aber er irrte sich. Viktor hat die Frauen für das georgische Kartell gesammelt, nicht für sich. Denen ist eine Lieferung Frischfleisch aus Albanien, nennen wir es mal, abhandengekommen. Viktor schuldete ihnen noch einen Gefallen, also hat er sich am Pariser Buffet bedient – ein Transport aus Osteuropa hätte zu lange gedauert. Rein zufällig waren Waynes Frau und Kind dabei. Du siehst, es war ein unglückliches Missverständnis, nichts weiter. Es ging ums Geschäft. Aber hatte Wayne dafür Verständnis?“ Zoey schüttelte gespielt vorwurfsvoll den Kopf.
Sie verdrehte die Augen. „Wenn du schon Scheiße laberst, kannst du dich wenigstens beeilen!“
Zorn flackerte in den blauen Augen
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