Jane Christo - Blanche - 01
werfen, sonst riskierte sie, Leos Frau zu verletzen oder zu töten – vorausgesetzt, sie lebte noch. Das war zwar unwahrscheinlich, denn Zoey brauchte Leo nicht mehr, aber sie wollte kein Risiko eingehen.
Blanche hangelte sich an den Messingrohren über ihrem Kopf die Treppe hinunter, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Die Maschinenpistolensalven drangen hier unten nur noch gedämpft zu ihr. Anscheinend lieferten sich Russen und Italiener eine Straßenschlacht. Solange Enzo die Ausgänge blockierte, konnte er tun und lassen, was er wollte. Es wäre interessant, wie er reagierte, wenn die Polizei aufkreuzte. Dann musste er eine Entscheidung treffen: Gehen oder bleiben. Sie ging davon aus, dass er sich mit seinen Männern zurückziehen würde, denn das hier ließ sich nicht mehr vertuschen oder mit Schmiergeldzahlungen totschweigen. Dies war ein offener Krieg und die Polizei konnte nicht zusehen, wie sich die führenden Mafiaorganisationen gegenseitig abschlachteten, obwohl das wahrscheinlich das Beste wäre. Die natürliche Auslese würde ihren Gang nehmen und am Ende müssten die Beamten nur noch mit Kehrblech und Besen die Reste auffegen. Vielleicht war das der Grund, dass sie noch nicht angerückt waren.
Nachdem sie den zweiten Treppenabsatz erreicht hatte, zog sie die Stabtaschenlampe aus den Tiefen ihrer Cargohose und leuchtete in den schmalen Gang. Wie auf Kommando feuerten sechs Mündungen in ihre Richtung. Blanche fluchte und löschte das Licht, als eine Kugel ihre Schulter streifte. In dem stockdunklen Gang wäre die Sicht ohnehin gleich null, da der Trümmerstaub wie Londoner Nebel in der Luft hing. Mit geschlossenen Augen kniete sie auf dem Boden und spitzte die Ohren. Ihre neuen Superkräfte verschafften ihr einen entscheidenden Vorteil – sie wollte gar nicht wissen, wie Beliar das wieder hingekriegt hatte. Wahrscheinlich lief es auf ihren letzten Austausch von Körperflüssigkeiten hinaus, denn ihr Gehör funktionierte besser denn je. Selbst kleinste Geräusche nahm sie wahr. Flüstern, nachladen, röcheln, Schritte … Sie konzentrierte sich, folgte dem keuchenden Atem der Gegner und schoss zweimal in die Finsternis. Stille.
„Vitali?“, raunte eine hohe Männerstimme. Dann zerriss ein durchdringender Fluch das Schweigen. Blanche schoss ein weiteres Mal, bis wieder Ruhe eintrat.
„Taras?“ Eine andere Stimme, die sie trotz des Wisperns lokalisieren konnte.
Ihr Vollidioten! Macht nur so weiter, dann krieg ich euch alle, dachte sie.
„Skazat’ chto-nibud’!“
Sag was!
Sie unterdrückte ein Schnauben, zielte abermals in den eingestäubten Gang, lauschte und konzentrierte sich auf das panische Hecheln. Sie schoss zweimal, achtete auf die Flüche und lenkte die SIG in die entsprechende Richtung, um einen weiteren Schuss abzugeben. Die letzten beiden Patronen ballerte sie ziellos in den Gang, um sich weiter vorzupirschen. Sie suchte Schutz in einem gemauerten Türrahmen, doch das Knirschen ihrer Stiefel gab den Gegnern einen Anhaltspunkt, die sie nun mit ihren Uzis beschossen.
Nur noch zwei. Die Mündungsfeuer bildeten für ihre Kugeln die reinste Landebahn, darum lud sie die SIG nach, und erschoss Blödmann Nummer fünf. Dem letzten Blindgänger ließ sie keine Chance, nachzuladen, sondern rannte in der Finsternis auf ihn zu, denn er machte Geräusche wie ein schnaubendes Rhinozeros. Sie schnitt ihm die Kehle durch, dann knipste sie die Taschenlampe an und sah sich um. Das Kellerloch schien so etwas wie ein Aufenthaltsraum gewesen zu sein, von denen es hier unten bestimmt jede Menge gab. Hundertfünfzig Mann mussten schließlich irgendwo untergebracht werden. Als sie wieder in den Gang einbog, trat sie auf der Suche nach Zoey jede Tür ein. Es war unwahrscheinlich, dass er sich hier irgendwo verkroch, aber sie wollte auf Nummer sicher gehen. Vermutlich kämpfte er auf der anderen Seite der Rue d’Orsei mit Enzos Männern, sofern dieser nicht schon längst den Schwanz eingezogen und sich verkrümelt hatte.
Als sie mit einem gut gezielten Sidekick die vierte Tür aufbrach, blieb sie wie angewurzelt im Rahmen stehen. Auf dem Tisch lag eine Frau, die Beine weit gespreizt, die Arme an den Handgelenken mit zwei Messern durchbohrt, als hätte man sie gekreuzigt. Ihre Kleidung war vorn zerrissen und als Blanche das Halogenlicht über den zerschundenen Körper wandern ließ, hatte sie keinen Zweifel, wessen Werk das war. Zoeys Name stand in blutigen Großbuchstaben auf Renées
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