Jane Christo - Blanche - 01
es war fraglich, ob er mit einer Kugel im Kopf ebenso glimpflich davongekommen wäre.
„Wie geht es dir?“ Nella biss sich auf die Lippe und schloss für einen Augenblick die Augen. Was für eine Frage! Er hatte versucht sich das Leben zu nehmen, wie sollte es ihm da wohl gehen? „Ich meine …“
„Schon gut, Kind, ich bin okay.“ Er betrachtete sie von oben bis unten, dann hob er die Brauen. „Du siehst gut aus.“
Nella versuchte ein Lächeln, doch sie war zu angespannt, um es echt aussehen zu lassen. Enzos Anweisung war eindeutig gewesen und sie hatte Angst, ihn zu enttäuschen. Was, wenn Leo nicht mitkommen würde? Sie hatte Lucas und Ernesto unten in der Eingangshalle gelassen, weil sie Leo nicht unter Druck setzen wollte. Den beiden war es egal, ob er freiwillig auf der Rückbank der Limousine Platz nehmen würde oder sie ihn sich über die Schulter werfen und in den Kofferraum stecken mussten – Befehl war Befehl. Nella dagegen wäre es lieber, wenn sie ihn überzeugen konnte, sie zu begleiten, statt ihn wie einen Sack Kartoffeln zu transportieren. Davon abgesehen wirkte er mehr als angeschlagen. Unter den blauvioletten Flecken hatte seine Haut eine gelblich-graue Färbung angenommen, die dem Farbton der Krankenhauswände verdammt ähnlich sah. Außerdem hatte er abgenommen und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, wirkte er alt.
„Ich …“, begann sie unsicher. „Leo, können wir vielleicht irgendwo in Ruhe reden?“
„Ich wollte gerade gehen, willst du mitkommen, Kind?“
„Wohin?“
Er zuckte mit den Schultern. „Egal, Hauptsache raus hier.“
„Warst du auf dem Weg nach Hause?“
„Zurück in die leere Wohnung? Auf keinen Fall. Ich muss mit Blanche sprechen, weißt du, wo ich sie finden kann?“ Er rieb sich das stopplige Kinn, zuckte zusammen und grunzte leise.
Also hatte er keine Ahnung, wohin er gehen sollte. Gut. Nella hakte sich bei ihm unter, sodass er sich auf sie stützen konnte, und führte ihn zu den Aufzügen.
„Ich habe keine Ahnung, wo sie gerade steckt, aber ich kenne jemanden, der dir vielleicht weiterhelfen kann. Warum begleitest du mich nicht? Ich war auf dem Weg zu mir und wollte vorher schauen, wie es dir geht.“
„Nichts für ungut, Kleines, aber ich erinnere mich noch gut an Renées schimmelige Hütte, ein zugiges Loch mit Blick auf die Périphérique. Glaub mir, das Letzte, das ich im Moment gebrauchen kann, ist ’ne Depression.“
Nella lächelte. „Ich bin umgezogen“, sagte sie und drückte den Knopf für das Erdgeschoss. Unten angekommen stellte sie erleichtert fest, dass Ernesto und Lucas sich in den Wagen zurückzogen, als Nella mit Leo die Eingangshalle betrat. Anscheinend hatte Enzo ihnen eingeschärft, sich im Hintergrund zu halten. Eine Sorge weniger, dachte sie und stieß den angehaltenen Atem aus. Es fiel ihr nicht schwer, zu schauspielern, damit verdiente sie schließlich ihren Lebensunterhalt. Hatte sie zumindest. Inwieweit das der Vergangenheit angehörte, musste sie noch herausfinden, denn was genau Enzo von ihr erwartete, war ihr noch immer nicht klar. Vielleicht wusste er es selbst nicht und das Ganze war ein Test.
Vor der Limousine blieb Leo stehen und betrachtete das Fahrzeug, als wäre es eine giftige Schlange. „Hat Pierre dich geschickt?“ Der misstrauische Ton war kaum zu überhören.
„Pierre ist damit beschäftigt, seine Knochen zu nummerieren und neu zu sortieren.“
Leos rechter Mundwinkel hob sich träge. „Hat Enzo ihm endlich in den Arsch getreten?“
„Mit Anlauf.“ Sie nickte zur Wagentür, die Lucas für sie geöffnet hatte. Als sich Leo nicht bewegte, sagte sie leise: „Das geht in Ordnung, Leo. Renée war meine Freundin. Ich würde dich nie übers Ohr hauen.“
„Mag sein, Kind. Aber hast du mal darüber nachgedacht, dass du mir vielleicht nicht trauen kannst?“
Diesmal hob Nella fragend die Brauen und rührte sich nicht. Leo begegnete ihrem Blick, dann schüttelte er den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er als Nächstes tun würde, und nahm auf der Rückbank Platz. Als der Wagen anfuhr, drehte er sich zu Nella und kam gleich zur Sache.
„Also, Kind, wenn es stimmt, dass Enzo Pierre auseinandergenommen hat, gehe ich mal davon aus, dass Louis dich schickt.“
Nella öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Leo hob abwehrend eine Hand.
„Ich bin fertig mit Louis und seinen blinden Flecken. Er hat Pierre jahrelang gedeckt, obwohl jeder im Arrondissement wusste, was für eine Niete dieser
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