Jane Reloaded - Roman
anfänglicher Proteste immer Jane I gerufen hat. Ihren eigenen Rufnamen Augusta hat meine Großmutter, je älter sie wurde, immer seltener und später gar nicht mehr benutzt.
Sie war für uns alle nur Jane III.
Meine erste bewusste Erinnerung an meine Großmutter war einer ihrer legendären Auftritte als Lucy. Ich juchzte und kicherte, wenn sie leicht in die Knie ging, um mich dann o-beinig, schwankend und watschelnd durch den Flur ihrer Wohnung zu jagen, vorbei an der Bilderwand mit den Porträts von Ida, Ardi, Lucy und X-Woman. Und dort hat sie mir immer wieder eine Sache eingeschärft: »Erst wenn du große Zeitspannen in Generationen umrechnest, egal ob du zwanzig oder dreißig Jahre dafür ansetzt, kannst du ein wenig nachempfinden, wie lange alles her ist. 350 000 Generationen! So lange dauerte die Evolution, die uns heutige Menschen hervorgebracht hat.«
Als Teenager hielt ich ihr schließlich vor: »Das ist doch aber genauso unfassbar wie sieben Millionen Jahre!« Jeder Einwand weckte jedoch nur ihren Ehrgeiz, denn Jane III gab sich nie geschlagen. »Was dir so unglaublich lang erscheint«, entgegnete sie, »ist letztlich erschreckend kurz, wenn wir einen anderen Maßstab anlegen. Genau dafür gibt es den kosmischen Kalender.«
Und sie überreichte mir einen Kalender, bunt gedruckt auf einem langen, festen Papierstreifen mit kleinen Bildchen und einer besonderen Skala. Diese setzt das Alter unseres Universums, die 15 Milliarden Jahre, die seit dem Urknall vergangen sind, in Beziehung zu einem Erdenjahr. Die riesigen kosmischen und geologischen Zeitdimensionen werden so auf Einheiten heruntergebrochen, die wir im Laufe eines Jahres erleben und tagtäglich fühlen können: 12 Monate, 52 Wochen und 365 Tage, 24 Stunden, 60 Minuten und 60 Sekunden.
»Das kann wirklich jedes Kind verstehen«, behauptete meine Großmutter. Ich hörte ihren Erklärungen immer fasziniert zu. Sie lehrte mich zu staunen.
Erst am Ende dieses langen Kalenders, am allerletzten Tag des Jahres, quasi an Silvester, taucht gegen 15:15 Uhr der älteste Ahne der Menschenfamilie auf. Die sieben Millionen Jahre lange Geschichte unseres Werdens ist hier auf lächerliche acht Stunden und 45 Minuten geschrumpft! Bis 22:30 Uhr entstehen noch schnell die ersten primitiven Werkzeuge. Unser aller Liebling Lucy gesellt sich gegen 21:40 Uhr dazu, und gut eine Stunde später, um 22:57 Uhr, kurz vor Jahresende, schaffen es der Homo erectus in Afrika und sein asiatischer Bruder, der Pekingmensch, auf der Welt zu erscheinen. Der erste anatomisch moderne Cro-Magnon-Mensch sagte schließlich eineinhalb Minuten vor Mitternacht Hallo.
Nur eine Stunde und drei Minuten lang blieb der Homo erectus verschwunden. In Menschenjahre umgerechnet waren es jedoch 400 000. Seine Art hatte sich also nur sehr kurz, andererseits aber auch wieder sehr lange verabschiedet, je nachdem, welchen Maßstab man anlegt. Und bereits in der zweiten Sekunde nach Mitternacht tauchen gleichzeitig mit dem neuen alten Frühmenschen die fünf Janes auf.
Inzwischen ist der Kalender schon ziemlich abgegriffen, denn dieses Geschenk meiner Großmutter begleitet mich immer noch überallhin. Auch ins Laos-Labor habe ich ihn mitgenommen und in meiner Wohnhütte an der Flechtwand neben der Eingangstür aufgehängt. Einmal am Tag, und wenn es nur kurz im Vorbeigehen ist, schaue ich auf den bunten Kalender und werde daran erinnert, wo wir alle stehen, wo Jamie und ich unseren Platz im großen Ganzen haben. Dann murmle ich ihm zu: »Willkommen zurück!« Und dass das möglich geworden war, verdankt er auch Jane III.
Von Anfang an wollte meine Großmutter Paläogenetikerin werden, genau wie ihre Mutter. Schon als Schülerin stahl sie sich immer wieder ins Labor, ließ sich alles erklären und zeigen. Das kluge Mädchen begann mit siebzehn zu studieren. Mit zweiundzwanzig Jahren, als sie gerade ihre Doktorarbeit begonnen hatte, plante sie ganz rational ihr erstes und einziges Kind, natürlich eine Tochter, und das ohne Mann. Im Jahre 2046 nahmen sich immer mehr Frauen diese Fortpflanzungsfreiheit und wählten die kontrollierte Fremdbefruchtung. Meine Großmutter wollte alles anders machen als ihre Mutter, die erst mit sechsunddreißig ein Kind bekommen hatte und noch ganz altmodisch verheiratet war, und die am Ende mit ihrem Mann ihre Enkelin, meine Mutter, aufziehen half.
Bereits im Studium hatte sich Jane III mit fossiler DNA beschäftigt, dieser sehr alten Erbsubstanz von
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