Jane Reloaded - Roman
getraut, alles klar auszusprechen, und den leisen, sehr berühmt gewordenen Satz geschrieben: »Licht wird auch fallen auf die Herkunft des Menschen und seine Geschichte.«
Langsam und mit der Zeit setzte sich die Evolutionstheorie immer mehr durch. Aber zu Zeiten meiner Ururgroßmutter, um das Jahr 2000, hielt immer noch die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland nichts von Darwins erhellender Lehre. Heute sind es nur noch zehn Prozent Unverbesserliche, die nicht überzeugt sind oder weiter an einen intelligenten Designer glauben.
Meine Großmutter, meine Mutter und später auch ich teilten den Traum, die Galapagos-Inseln zu besuchen, die Charles Darwin ein »Schöpfungszentrum« genannt hatte. Johanna hatte sich immer gewünscht, zusammen mit Gregor dorthin zu reisen und die Elefantenschildkröten zu sehen, die zweihundert Jahre alt werden können. »Zu wissen, dass es einmal eine menschenlose Zeit gab, damals, als Galapagos aus dem Feuer geboren wurde, das macht uns Menschen doch aus.«
Schon im Jahr 1978, als Jane I für die Grube Messel kämpfte, wurde der Archipel zum Weltnaturerbe ausgerufen, aber bereits dreißig Jahre später, als Jane II studierte, war Galapagos bedroht, stand die Inselgruppe auf einer Roten Liste und die Aberkennung des Titels drohte. Tausend Kilometer vor der Küste Ecuadors hatte der Mensch gnadenlos zugeschlagen und war auf der Natur rücksichtslos herumgetrampelt. Über Geld und Verbote versuchte man die Ströme von Touristen in den folgenden Jahren zu lenken, aber am Ende, als Jane IV studierte, wurde der Tourismus komplett untersagt. Deshalb waren wir drei auch nie dort gewesen.
Als vollkommen unbeeinflussbar und noch gefährlicher als der Mensch erwiesen sich Wellen, Wolken und Winde, die seit über 85 Jahren eine strahlende Fracht auf die 14 Inseln bringen und abladen: Radioaktive Partikel aus dem großen Reaktorsarg Fukushima finden ihren Weg von der Küste Japans über den Pazifik vor allem zur Westküste des nord- und südamerikanischen Kontinents und verschonen auch Galapagos nicht. Dadurch wurden keine neuen Arten, sondern bizarre, geschundene Kreaturen geboren: Schildkröten ohne Panzer, blinde Seelöwen oder verkrüppelte Meerechsen. Meine Mutter trauerte, als sie mit mir zusammen die Fotos anschaute. Sie hat mich nie geschont, mir immer viel zugemutet, auch in diesem Fall. Und ihre Tränen waren meistens Wuttränen gewesen. Doch immer nur kurze Zeit hielt sie inne, dann holte sie tief Luft und handelte. Ihre Anklage lautete: »Galapagos ist aus einem Labor der Evolution zu einem Labor des Anthropozän und des Homo sapiens geworden. Nun ist er vom Artentod bedroht.«
Sie rief damals das »Anthropozän« aus, das »Zeitalter der Menschheit« oder auch die »Menschenzeit«. Das sei längst überfällig, verkündete sie und stand damit nicht allein.
Schon im Jahr 2000 hatte ein Chemienobelpreisträger, der zum Ozonloch und Klimawandel geforscht hatte, diesen radikalen Schnitt gefordert. Denn offiziell lebte die Menschheit immer noch in einer Nacheiszeit, dem Holozän, dem »völlig Neuen«, so eine freie Übersetzung. Aber dieses Neue hatte bereits vor 11 000 Jahren begonnen, und seit der Industrialisierung im 18. Jahrhundert hatte sich die Erde unter dem Einfluss des Menschen so radikal verändert, wie früher nur ein Meteoriten- oder ein Kometeneinschlag es schaffen konnte.
Nun werden Erdepochen aber nicht von einzelnen Personen und schon gar nicht von meiner Mutter ausgerufen. Zuständig ist eine besondere Kommission, die Internationale Stratografische Kommission, ICS. Sie prüft, ob die entstandenen und noch entstehenden geologischen Schichtungen wirklich den Schluss zulassen, die Erde sei in ein neues Zeitalter eingetreten. Die Frage lautet also: Was werden Forscher in Zehntausenden von Jahren finden, wenn sie sich in unsere heutigen Lebensschichten vorbohren? Sie werden ohne Zweifel die Zerstörungen des Anthropozän nachweisen können: keine Pflanzenvielfalt mehr, nur monochrome Schichten von Pollen, abgeholzte Wälder, eine verstärkte Erosion, übersäuerte Meere und in der Folge ein Artensterben noch nie da gewesenen Ausmaßes. Sie werden später den Stahl, das Glas und den Beton der untergegangenen Städte anbohren und über Atommülllager erschrecken.
Johanna hat die offizielle Entscheidung der Kommission natürlich nicht abgewartet, die endlich im Jahr 2100 vorliegen soll, sie verwendet den Begriff schon seit einiger Zeit als Warnung. Auch die folgende
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