Janusliebe
neugierigen Blicke der beiden
Wachmänner, aber es interessierte ihn nicht. Er machte sich jetzt echte Sorgen um
seinen Bruder und diese trieben ihn in Lawrence’ Büro.
Der Bruder hatte stressige Wochen hinter sich. Er arbeitete häufig bis tief in
die Nacht hinein. Mehr als einmal hatte ihm nicht nur Vincent, sondern auch sein
Arztfreund Richard Cline geraten, endlich ein paar Erholungstage einzulegen.
Aber Lawrence hörte ja auf niemanden! Wer weiß, ob ihm seine Unvernunft nicht
einen Kreislaufzusammenbruch oder Infarkt eingebracht hatte und er jetzt hilflos
in seinem Büro lag?
Nein, Vincent musste nachsehen. Er hätte es sich nie verziehen, wenn seinem
großen Bruder etwas zugestoßen wäre und er sich aus purer Bequemlichkeit nicht
um ihn gekümmert hätte.
Nur die Notbeleuchtung brannte. Bläuliches Licht beschien den langen Gang
und das sachlich kühle Inventar. Die Tür zu Lawrence’ Büro stand offen, aber der
Bruder saß nicht, wie erhofft, an seinem Schreibtisch. Er befand sich auch nicht im
Kopierraum oder in der Teeküche. Lawrence war überhaupt nicht anwesend. Als
Vincent dies klar wurde, steigerte sich seine Sorge in pure Angst.
Er riss das Handy aus der Gürteltasche und wählte zum x-ten Male an diesem
Abend Lawrence’ Nummer, aber wieder meldete sich nur die Mailbox. Vincent
konnte den Text schon nicht mehr hören! Vor Zorn hätte er das Handy beinahe an
die Wand geworfen, aber er beherrschte sich, steckte es in die Tasche zurück und
fuhr ins Erdgeschoss hinunter, wo die beiden Wachmänner gerade zu ihrer Runde
aufbrechen wollten.
«Haben Sie meinen Bruder heute Abend gesehen?», blaffte Vincent die Män-
ner an. «War er heute irgendwann mal hier?»
«Äh ... nö ...» Der Ältere der beiden kratzte sich das Kinn und schielte dabei
zum Lift. «War nix Ungewöhnliches los heute – äh ..., Sir.»
«Danke!» Vincent schoss davon. Draußen blieb er stehen und sah ratlos auf
seinen Wagen. Wo zum Teufel steckte Lawrence M. Carlson?!
———————
Während Carry fest in Lawrence’ Arme geschmiegt durch die Straßen ging,
eilten ihre Gedanken voraus, dem Abschied entgegen, der unweigerlich kommen
musste.
Es war schmerzlich für sie, aber ein Tag wie der vergangene konnte sich nicht
wiederholen. Es war ein Traum, den sie gemeinsam geträumt hatten, wunderschön
und erregend, aber nun kam das Erwachen. Wenn sie beide nicht mit Bitterkeit an
dieses Erlebnis zurückdenken wollten, musste Carry in ein Taxi steigen und nach
Hause fahren, ohne von Lawrence’ Leidenschaft gekostet zu haben.
Ging sie mit ihm, würden Erklärungen fällig sein, viele Worte, die doch nur
eins sagten: Eigentlich war alles nur ein riesiges Versehen und Missverständnis.
Denn natürlich würde Lawrence sich betrogen fühlen, wenn er den wahren Grund
für ihre überraschende Begegnung erfuhr. Vielleicht würde er auch vermuten, dass
Carry nur eine Komödie inszeniert hatte, um ihrer Freundin zu helfen.
Es sah ja auch ziemlich abgekartet aus, was geschehen war. Carry konnte selbst
kaum glauben, dass so viele Zufälle zusammengekommen waren.
Wie Recht sie mit ihren Befürchtungen hatte, bewiesen ihr Lawrence’ Worte,
die er ihr leise ins Ohr flüsterte.
«Ich habe hier in der Nähe ein kleines Apartment. Weißt du was? Wir fahren
jetzt dorthin und vergessen ganz einfach, dass es bereits Tag wird.»
Carry antwortete nicht darauf. Sie brauchte Zeit, sich eine plausible Ausrede
einfallen zu lassen, aber Lawrence schien auch gar keine Erwiderung zu erwar-
ten.
«Es ist keine große Wohnung», sprach er weiter, während sie Arm in Arm
durch die erwachenden Straßen schlenderten. «Nur ein Zimmer mit Kochnische
und Bad. Aber gemütlich haben wir es dort. Ich mache uns ein ganz großes Früh-
stück mit Sekt und kleinen Leckereien. Du kannst dir wünschen, worauf du Lust
hast. Oder ...» Er lachte leise. «... wie wär’s mit Kaviar? Möchtest du Kaviar?»
«Nein, danke», lehnte Carry ab. Sie aß wirklich gerne, aber Kaviar und Austern
riefen bei ihr nur Gänsehaut hervor. Sie fragte sich, wie man dieses teerschwarze,
penetrant nach Fisch schmeckende Zeugs nur in den Mund nehmen konnte. Oder
diese glibberige Masse, die auch noch zusammenschrumpelte, wenn man Zitrone
draufspritzte, anschauen oder gar hinunterschlucken konnte.
«Du, hör mal.» Lawrence schien sich immer mehr in seine Idee zu verlieben.
«Wir könnten, wie gesagt, ganz toll frühstücken und dann den
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