Janusliebe
schüttelte den Kopf, deutliche Missbilligung im Gesicht.
«Was ist denn schon passiert? He! Lawrence ist dir nicht schmachtend vor die
Füße gesunken und hat dir seine übermächtige Liebe beteuert, sondern er hat dir
zu verstehen gegeben, dass ihm in Sachen Sex ein paar praktische Übungsstunden
fehlen.»
Carry wollte widersprechen, aber Daphne schnitt ihr mit einer Handbewe-
gung das Wort ab.
«Genauso sehe ich das! Lawrence ist ganz einfach übervorsichtig oder verunsi-
chert. Wahrscheinlich meint er, dass seine Fähigkeiten deinen Ansprüchen nicht
genügen, und aus diesem Grund hält er sich mit Liebesschwüren zurück.»
«Du tust gerade so, als wäre Sex alles in einer Beziehung», maulte Carry un-
zufrieden. «Für mich gehört aber mehr dazu. Geistige und seelische Übereinstim-
mung zum Beispiel oder gegenseitiger Respekt. Das sind Fundamente, auf denen
eine gesunde Beziehung aufgebaut werden kann.»
«Prima!» Über Daphnes Gesicht huschte ein zufriedenes Lächeln. «Dann sag
das genau so zu Lawrence. Es wird ihm sicher helfen.»
«Dem ist nicht zu helfen», nölte Carry störrisch. «Er fühlt sich einfach zu wohl
in der Rolle des Lonesome Rider.»
Daphne wollte etwas darauf erwidern, aber der Türgong schlug an und unter-
brach den kleinen Disput. Wie der Blitz sauste Daphne aus dem Zimmer. Carry
hörte ihre aufgeregte Stimme im Wohnzimmer, es klang wie das Frühlingszwit-
schern einer verliebten Lerche.
Langsam ging auch Carry in den Wohnraum hinüber.
Vincent sah seinem Bruder heute ganz besonders ähnlich. Sein Anblick ver-
setzte Carry einen kleinen, schmerzhaften Stich, als er mit Daphne an der Hand
vor ihr stand. Statt der bequemen Jeans und des weiten Pullovers oder Sweatshirts,
die er sonst bevorzugte, hatte sich Vincent für diesen Abend in ein dunkles Jackett
geworfen, das die Hand eines guten Schneiders verriet. Die graue, klassisch ge-
schnittene Hose und das weiße Hemd verliehen ihm weltmännische Eleganz. Er
wurde damit allerdings zur jüngeren Ausgabe seines Bruders, eine Ähnlichkeit,
die Carry nie zuvor aufgefallen war und die sie jetzt leicht verwirrte.
Nur Vincents Augen waren anders, wie sie beim zweiten Blick in sein Gesicht
feststellte. Lawrence’ Augen waren von intensivem Blau, eine Farbe, die Carry
noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Je nach Lichteinwirkung oder Ge-
mütszustand wechselten sie vom sonnigen Meerblau bis zu tiefdunklem Lapis.
Carry erinnerte sich genau daran. Am Samstag zum Beispiel, da hatten Lawrence’
Augen diese dunkle Farbe gehabt, als sie diese verführerische Massage ...
Stopp, rief Carry sich energisch zur Ordnung. Wo sollten diese Gedanken denn
hinführen? Nur zu neuer Unruhe und Depressionen. Darauf wollte sie verzichten!
«Hat Lawrence sich endlich aus seinem Zimmer getraut?», erkundigte sich
Daphne neugierig, da Carry keine Anstalten traf, selbst danach zu fragen.
Vincent ließ sich in einem der Sessel nieder und streckte gemütlich die langen
Beine von sich.
«Ja, aber erst am Spätnachmittag. Lawrence kam die Treppe herunter, sprang
in seinen Ferrari und brauste davon, ohne Ziel oder eine Begründung anzugeben.
Wutsch – weg war er.»
Er schnippte mit den Fingern und lächelte Daphne zu, die sich auf seine Ses-
selarmlehne gesetzt hatte.
«Es ging so schnell, dass Purler nicht mal Lawrence’ Anzug abbürsten konnte,
wie er es sonst immer tut. Der arme Purler war total frustriert.»
«Und Lawrence hat nichts, aber auch wirklich gar nichts gesagt?», vergewis-
serte sich Daphne hartnäckig.
Vincent schüttelte den Kopf. «Noch nicht mal ‹Puh›.» Er gab Daphne einen
sanften Klaps auf den Oberschenkel und sah sie auffordernd an. «Ich würde jetzt
gerne gehen, sonst fängt die Show ohne uns an. Das wäre schade, denn ich habe
fast vier Stunden für die Karten angestanden.»
«Du Armer!» Daphne drückte ihm einen herzhaften Kuss auf die Wange.
«Wieso hast du sie nicht übers Internet bestellt?»
«Weil es keine mehr gab.» Vincent versetzte ihr einen Nasenstüber. «Los, erhe-
be dich. Wir wollen los.»
Daphne gehorchte grinsend. Übermütig drehte sie sich ein paar Mal im Kreis
und streckte Vincent die Hand entgegen, die er sofort ergriff.
Carry sah ihnen neidisch hinterher, als sie lachend das Apartment verließen.
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Das Fernsehprogramm konnte Carry nicht fesseln. Sie war viel zu unruhig, um
still auf dem Sofa zu sitzen und sich irgendeinen doofen Spielfilm
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