Jasmin - Roman
Stuhl. Sie erwachte verstört und trat ans Fenster: Die drei Stühle standen an ihrem Platz. Doch das brachte ihr keine Erleichterung, sie zündete sich eine Zigarette an und ging nach unten.
»Wo ist Papa?«, fragte sie besorgt.
»In der Redaktion.«
»So früh schon?«
»Seit dem Krieg hat er keine Geduld, zu Hause zu sitzen.«
»Mama, die Stühle im Garten sind verrostet.«
»Wer hatte denn den Kopf dafür, sie anzuschauen?«
Nachdem sie den Morgenkaffee getrunken und ein leichtes Frühstück zu sich genommen hatten, ging sie hinauf, um sich zum Ausgehen fertig zu machen. Sie holte die geheimen Briefe aus dem Koffer, die sie auf Faiz’ Bitte hin sofort nach ihrer Ankunft übergeben sollte, und steckte sie zwischen Bücher. Sie konnten bis morgen warten, dachte sie. Heute war Azmis Geburtstag. Sie würde jetzt, frühmorgens, zu seinem Grab hinaufgehen, vor allen anderen, sogar vor ihren Eltern.
Sie pflückte eine Blume im Garten und stieg zum Friedhof hinauf, der menschenleer war. Gut, dass sie so früh gekommen war. So konnte sie auf Azmis Grab sitzen und mit ihm zusammensein, nur sie beide allein. Lange Zeit sprach sie in ihrem Herzen mit ihm, erzählte ihm, wie es ihr ergangen war, von ihrer Sehnsucht, ihren öden Nächten, von der Einsamkeit, die den besten Teil ihres Lebens verzehrte, und schließlich, nach so vielen Tagen der Abgestumpftheit, weinte sie. »Inta umri, du lebst«, murmelte sie, in Erinnerung an ein Lied, das sie während ihrer gemeinsamen Zeit gesungen hatten.
Sie erhob sich, stand ein wenig vor dem Marmorstein und streichelte die Buchstaben seines Namens. Die Hitze begann zu brennen. Ihr Kopf schmerzte. Kein Entrinnen vor diesem Licht. Wie hatte sie vergessen können, dass die Sonne und das blendende Licht hier das Dasein bestimmten?
Auf dem Weg in die Altstadt betrat sie ihr geliebtes Restaurant, das noch leer war. Abu Raschid, der getreue Oberkellner, und die restlichen Angestellten empfingen sie mit Freudenrufen. Es war ein Genuss, das Lokal zu sehen: blitzend vor Sauberkeit, die Tische glänzend wie neu poliert, der sprießende Garten, und ihr
Granatapfelbaum war noch da, nur größer, in voller Blüte. Sie setzte sich in die Ecke neben den Baum, streichelte seine Zweige, seine unreifen Früchte, und plötzlich fuhr sie auf: Wo war ihr Vater? Sie stand auf, überquerte die Straße zu seinem Büro in der Zeitungsredaktion. Auch dort war er nicht.
Als sie zurückkam, reichte ihr Abu Raschid einen Blumenstrauß, ein Kännchen Kaffee mit einem Glas kühlem Wasser und sagte, ein einziges Lächeln: »Ahlan wa sahlan, meine Tochter, du hast den Ort erhellt.«
Freudig atmete sie das vertraute Aroma des Kaffees ein und nahm sich die Zeitungen im Restaurant. Sie las gierig, wobei sie sich über sich selbst wunderte. In Paris hatte sie nur die Wochenendausgabe von Le Monde durchgeblättert und hauptsächlich die Artikel Eric Rouleaus, des Nahostexperten, gelesen. Jetzt ließ sie keine einzige Zeitung aus, jordanisch, ägyptisch oder syrisch. Sogar die Anzeigen las sie, wollte jedes Quäntchen Information einfangen, ihren Speicher auffüllen, der sich geleert hatte.
Die Berichte erweckten Zorn und Schmerz in ihr, doch sie konnte nicht aufhören zu lesen, trank Wasser noch und noch, als wollte sie eine innere Verschmutzung hinausspülen. Am Ende blieben nur noch die israelischen Zeitungen, Hajom und die Jerusalem Post , übrig. Sie legte sie beiseite und trat hinaus auf die Salah-ed-Din-Straße.
Am Tor des Gouverneursgebäudes scharten sich die Soldaten des Feindes und redeten in höchster Lautstärke. Ihr Hebräisch klang vulgär und grob in ihren Ohren. Autos hupten. Der Verkehr lief zäh. Menschen drängten sich auf dem Bürgersteig und auf den Straßen. Für einen Moment hoffte sie, dass sie wütende Demonstrationen von Widerstand vor sich hätte, doch sehr schnell wurde ihr klar, dass es die Juden waren, die sich an den Ladeneingängen zusammenrotteten und nichts als kaufen und kaufen wollten. Erbitterte Enttäuschung überflutete sie: Diese da hatten das große arabische Volk besiegt?
Sie musste Bir-Zeit, die Universität, aufsuchen, mit den Studenten und Dozenten reden, erfahren, was sie empfanden. Es kam ihr in den Sinn, sich auch mit Nabil zu treffen, dem Sohn des Partners ihres Vaters, er war schließlich schon von Jugend an ein nationaler Revolutionär. Vielleicht sollte sie ihn anrufen. Doch schon schreckte sie zurück, wie sollte sie sich mit einem Mann treffen,
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