J.D.SALINGER Neun Erzählungen
als den direkten Nachfahren des lachenden Mannes betrachtete, sondern als den einzigen rechtmäßigen noch lebenden. 1928 war ich nicht einmal der Sohn meiner Eltern, sondern ein teuflisch geriebener Hochstapler, der darauf wartete, den kleinsten Fehler von ihnen als Vorwand zu benutzen, um anzufangen – möglichst ohne Gewalt, aber nicht unbedingt – , meine wahre Identität geltend zu machen. Als Vorsichtsmaßnahme, damit ich meiner falschen Mutter nicht das Herz brach, plante ich, sie bei mir in der Unterwelt mit einer unbestimmten, aber angemessen fürstlichen Aufgabe zu beschäftigen. Das Wichtigste aber, das ich 1928 zu tun hatte, war, mich vorzusehen. Die Farce mitzuspielen. Mir die Zähne zu putzen. Mir die Haare zu kämmen. Um jeden Preis mein natürliches, grässliches Lachen zu unterdrücken.
Tatsächlich aber war ich nicht der einzige rechtmäßige noch lebende Nachfahre des lachenden Mannes. Im Club gab es fünfundzwanzig Komantschen, also fünfundzwanzig rechtmäßige noch lebende Nachkommen des lachenden Mannes – und alle liefen wir unheilvoll und inkognito in der Stadt herum, betrachteten Fahrstuhlführer als potenzielle Erzfeinde, flüsterten Cockerspaniels aus dem Mundwinkel, aber flüssig Befehle ins Ohr, malten Arithmetiklehrern mit dem Zeigefinger Schweißtropfen auf die Stirn. Und warteten, warteten immerzu auf eine annehmbare Gelegenheit, im nächsten mediokren Herzen Entsetzen und Bewunderung zu entfachen.
Eines Nachmittags im Februar, kurz nach Eröffnung der Baseball - Saison bei den Komantschen, bemerkte ich im Bus des Häuptlings einen neuen Gegenstand. Uber dem Rückspiegel, oben an der Windschutzscheibe, befand sich das kleine, gerahmte Foto einer jungen Frau in akademischer Tracht. Ich fand, dass das Bild von einer Frau sich mit dem allgemeinen rein männlichen Dekor des Busses biss, und so fragte ich den Häuptling unverblümt, wer das sei. Erst wich er aus, aber letztlich räumte er ein, dass sie eine Frau sei. Ich fragte ihn, wie sie heiße. Er antwortete unfreimütig: »Mary Hudson .« I ch fragte ihn, ob sie beim Film oder so was sei. Er sagte, nein, sie sei aufs Wellesley College gegangen. Dann fügte er noch als langsam entwickelten Gedanken hinzu, das Wellesley sei ein erstklassiges College. Ich fragte ihn, warum er ihr Bild im Bus habe. Er zuckte leicht die Achseln, als wollte er, wie mir schien, damit andeuten, dass das Bild ihm mehr oder weniger untergeschoben worden sei.
Während der folgenden zwei Wochen wurde das Bild – wie unzulässig oder zufällig es dem Häuptling auch untergeschoben worden war – nicht aus dem Bus entfernt. Es wurde nicht mit den Baby - Ruth - Papierchen und den heruntergefallenen Lakritzpeitschen entfernt. Allmählich nahm es die unauffällige Persönlichkeit eines Tachometers an.
Eines Tages aber, auf der Fahrt zum Park, fuhr der Häuptling mit dem Bus auf der Fifth Avenue in Höhe der Sixties, einen knappen Kilometer hinter unserem Baseball - Platz, rechts ran. Ungefähr zwanzig Besserwisser verlangten unisono eine Erklärung, doch der Häuptling gab keine. Stattdessen nahm er seine Geschichtenerzählerposition ein und legte vorzeitig mit einer neuen Folge des »Lachenden Mannes« los. Doch er hatte kaum begonnen, als es an die Bustür klopfte. An dem Tag waren die Reflexe des H äuptlings besonders ausgeprägt. Er schleuderte sich buchstäblich auf seinem Sitz herum und riss den Bedienungsknüppel der Tür hoch, und eine junge Frau in einem Bibermantel stieg in den Bus.
Auf Anhieb kann ich mich nur an drei Frauen in meinem Leben erinnern, die mir auf den ersten Blick als von unklassifizierbar großer Schönheit erschienen. Eine war eine ziemlich dünne in einem schwarzen Badeanzug im Jones Beach Park, die erhebliche Schwierigkeiten hatte, einen orangefarbenen Schirm aufzuspannen, circa 1936. Die zweite war an Bord eines Karibi k -K reuzfahrtschiffs 1939 und warf ihr Feuerzeug nach einem Tümmler. Und die dritte war die Freundin des Häuptlings, Mary Hudson.
»Bin ich sehr spät dran?«, fragte sie den Häuptling und lächelte ihn an.
Ebenso gut hätte sie ihn fragen können, ob sie hässlich sei.
»Nein!«, sagte der Häuptling. Eine Spur hektisch blickte er auf die Komantschen neben seinem Sitz und bedeutete der Reihe, zur Seite zu rutschen. Mary Hudson setzte sich zwischen mich und einen Jungen namens Edgar Nochwas, der einen Onkel hatte, dessen bester Freund Whiskeyschmuggler war. Wir machten ihr jede Menge Platz. Dann fuhr
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