Je länger, je lieber - Roman
Veranda mit bunten Windspielen dekoriert war. Die Nummer 124. An diese Adresse war damals das Fax ihrer Eltern gegangen, das sie aus ihrer Handtasche gezogen hatte und nun in ihrer Hand flatterte. Hätte sie nicht einfach von Deutschland aus dort oben in dem Lädchen anrufen sollen, anstatt um die halbe Welt zu fliegen? War sie überhaupt wegen dieses mysteriösen Mannes hier? Oder wegen ihrer Eltern, die seinetwegen hier gewesen waren? War Mimi, ohne es bewusst geplant zu haben, in Wahrheit hier, um die letzten Tage ihrer Eltern nachzuvollziehen? Weil sie jetzt endlich alt genug war, um überhaupt zu begreifen, was damals passiert war? Ging es am Ende gar nicht um Clara und ihre Vergangenheit, sondern um Mimis Geschichte, die für sie hinter einem genauso dichten Nebel verschwand wie große Teile Neuschottlands?
Bei all den vernünftigen Entscheidungen, die sie seit dem Tod ihrer Eltern getroffen hatte, war das, was sie sich eigentlich vom Leben erhofft hatte, vollkommen in Vergessenheit geraten. Mimi hatte einfach die Dinge getan, die ihr als notwendig erschienen waren. Sie hatte die Galerie übernommen, sie hatte sich in eine vielversprechende Ehe mit einem angesehenen Mediziner geflüchtet, alles in der irrigen Hoffnung, irgendwo wieder ein Zuhause zu finden. Dabei hatte nichts davon mit ihren ureigenen Träumen zu tun gehabt. Es war, als würde sie jetzt nach und nach aus einer Art Tiefschlaf erwachen. Plötzlich spürte Mimi ihren Körper, ihren Atem, ihren Hunger nach Weite. Sie fühlte die Umgebung. Sie hörte die Geräusche, die das Leben machte. Sie hörte das Gras, das seine Halme aneinanderrieb. Sie spürte die Steinchen unter den dünnen Sohlen ihrer Ballerinas. War sie hier, um sich von ihren Eltern zu verabschieden, um endlich selbstbestimmt ins Leben hinauszutreten? Und zwar nicht als Kind ihrer Eltern, das einen unüberwindlichen Verlust erlitten hatte, sondern als Frau, die nun ihren Weg ging. Lag hier der Anfang ihres Weges? In Dotty’s Cove? Dort, wo der Weg ihrer Eltern geendet hatte?
Mimi holte tief Luft und drückte die Holztür des Souvenirgeschäfts auf. Von allen Seiten brach das sanfte Vormittagslicht durch die Sprossenfenster herein. Unterhalb der Fenster standen Tische, auf denen sich kleine Andenken aus Steinen und Muscheln stapelten. In den Ecken drückten sich Kleiderständer mit Windjacken und Sweatern aneinander. In einer gläsernen Vitrine neben der Kasse mit diesem neumodischen Touchdisplay breitete sich handgefertigter Schmuck aus bunten Glasperlen aus. Die Tür zur rückwärtigen Veranda stand offen, wo ein paar Touristen auf Holzstühlen saßen und Kaffee tranken.
Mimi trat an den Counter, hinter dem eine ältere Frau mit geflochtenen, grauen Haaren stand. »Hi.«
»Hey!« Die Frau lächelte freundlich. War das Fax damals aus ihrer Maschine gerattert?
»Ich bin auf der Suche nach einem Jacques Barreto«, hörte sich Mimi ganz selbstverständlich seinen Namen sagen. Als würde sie diesen Mann schon ewig kennen. »Für ihn ist hier vor zwanzig Jahren ein Fax eingegangen.« Und als wäre ihr Anliegen nicht schon sonderbar genug, breitete Mimi die Kopie vor der Frau aus, die sich augenblicklich darüberbeugte. Schließlich richtete sie sich wieder auf und schüttelte ratlos den Kopf.
»Jacques Barreto?«
Mimi nickte. »Ich weiß, es ist lange her, aber haben Sie diesen Namen schon einmal gehört? Hat er hier gelebt?«
Die Frau rieb sich über das Kinn und blickte konzentriert zum Fenster hinaus, als würde am Himmel ein Hinweis stehen. »Nicht dass ich wüsste. Hier im Ort heißt niemand so. Das kann ich mit Gewissheit sagen. Er klingt so fremdländisch.«
»Er muss vor etwa zwanzig Jahren hier gewesen sein. Oder hier gelebt haben. Kurz … kurz vor dem …« Mimi schluckte. Sollte sie tatsächlich den Flugzeugabsturz erwähnen, der sich direkt vor der Küste ereignet hatte? Wer wusste schon, ob diese Frau nicht auch Angehörige dabei verloren hatte? Ihre Miene wirkte, als hätte sie Mimis Gedanken gelesen. Ihre Stimme klang belegt, als sie ihren Satz beendete. »Kurz vor dem Flugzeugabsturz?«
Mimi nickte. »Ja.«
»Verstehe.« Die Frau lächelte bedauernd. »Ich habe den Shop hier erst vor fünf Jahren von meiner Tante Edith übernommen. Sie ist inzwischen leider verstorben. Möglicherweise hat sie den Mann gekannt, den Sie suchen.«
»Wissen Sie, wen ich sonst nach Jacques Barreto fragen könnte?«
»Leider nicht.« Die Frau schüttelte langsam den Kopf und gab Mimi
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