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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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wenigstens ihrer Großmutter Klarheit bringen konnte.
    Laut der ortseigenen Webseite bestand das Küstenstädtchen Dotty’s Cove, das für seine Meeresfrüchte und Hummer bekannt war, nur aus ein paar bunten Holzhäusern, die sich auf einer schmalen Landzunge tapfer an die Felsen klammerten und gegen Abend Männer in Segelbooten und Hummerkuttern, mit Netzen und Reusen beladen, hinaus aufs tosende Meer entließ, um sie in den frühen Morgenstunden, wenn sich die See wieder beruhigt hatte, mit reichem Fang in ihrer Bucht empfing. Es würde schnell gehen, sich nach Jacques Barreto durch die Ortschaft zu fragen. Irgendwer dort musste ihn ja gekannt haben.
    Der Flieger polterte die Startbahn hinunter, hob ab und bohrte sich gleich darauf durch gewaltige Regenwolken, bis die Luft mit einem Mal aufklarte und sich eine lichte, hellblaue Ebene bis in die Unendlichkeit erstreckte. Mimi schloss die Augen. Sie gehörte zu den wenigen Glücklichen, die automatisch einschliefen, sobald sie in einem Flugzeug saßen. Das monotone Dröhnen der Turbinen und das gelegentliche Absacken der Maschine wiegten sie sofort in einen entspannten, traumlosen Schlaf.
    Einen gefühlten Augenblick später wachte sie auch schon von der metallischen Mikrofonstimme der Stewardess auf, die die Passagiere dazu aufforderte, sich für die Landung anzuschnallen und die Rückenlehnen in eine aufrechte Position zu bringen. Und schon tauchte die Maschine erneut in dichten Nebel hinab, der bald zu einer düsteren, grauen Masse wurde. Vor den Luken ballte sich nichts als klebriges Schwarz. Nichts war zu sehen. Keine blinkenden Lichter. Keine Landebahn. Kein Flughafengebäude, und trotzdem setzte die Maschine mit einem Mal sanft auf der Erde auf und bewegte sich gemächlich Richtung Gate.
    Mimi lief als eine der Letzten die Gangway entlang, in den kleinen Flughafen. Die gläserne Empfangshalle war so in undurchdringlichen Nebel gehüllt, dass kaum davon auszugehen war, er würde sich jemals wieder lichten. Solch einen Dunst hatte sie noch nie erlebt. Es erschien ihr geradezu wie ein Wunder, dass die Autovermietung sich nicht weigerte, ihr einen Wagen auszuhändigen, mit dem sie quer über die Insel bis hinüber nach Dotty’s Cove fahren wollte. Die trübe Suppe, die die gesamte Landschaft verschluckte, schien hier nichts Ungewöhnliches zu sein.
    Mimi verstaute ihre Tasche im Kofferraum, setzte sich hinter das Lenkrad und rollte im Schritttempo vom Parkplatz auf die schmale Landstraße hinaus. Dies war also Neuschottland. An diesem Flughafen waren ihre Eltern vor zwanzig Jahren angekommen, auf dem Weg nach Dotty’s Cove. Ob damals auch so dichter Nebel geherrscht hatte, dass man von diesem nördlich gelegenen Land nichts sah, außer ab und an ein paar grüne Sträucher am Straßenrand?
    Nach einer halbstündigen Fahrt löste sich der Nebel schlagartig auf und legte den Blick auf eine sanft gewellte Dünenlandschaft frei. Mit Strandhafer bewachsene Hügel breiteten sich rechts und links der immer schmaler werdenden Straße aus, bis sie direkt ins Meer mündeten. Darüber stand der sattblaue Himmel, an dem ein paar Möwen kreisten. Hinter den silbrig grünen Dünen tauchten die grauen Dächer der Fischerhütten auf, die sich um felsige Buchten gruppierten. Mimi meinte das Klappern der Takelagen der Segelboote zu hören, die an den Holzstegen auf ihren Einsatz warteten.
    Am Ortseingang von Dotty’s Cove parkte sie den Wagen am Straßenrand und atmete die salzige Meeresluft ein. Ein paar Kinder auf Rädern fuhren klingelnd an ihr vorbei. Sie hob den Blick bis zum Ende der felsigen Landzunge, wo der weiße Leuchtturm stand und Wetter und Winden unbeeindruckt trotzte. Hätten vor den Holzhäusern keine Pick-ups geparkt, hätte man glauben können, die Zeit sei in diesem kleinen Küstenort seit der Gründung 1805 stehen geblieben. Hier hatten ihre Eltern ihre letzten Tage oder sogar Stunden verbracht.
    Hatten sie, wie Mimi auch, ihren Wagen am Ortseingang geparkt? Waren sie nebeneinander an den malerischen Buchten vorbeigeschlendert, in denen sich die Fischerboote wiegten? Abseits der Straße stapelten sich die Reusen im Gras. Über den aschgrauen Felsen hingen grüne Fischfangnetze zum Trocknen. Würde sie in Dotty’s Cove den Mann finden, der ihre Eltern zuletzt gesehen hatte? Oder wenigstens sein Grab?
    Mimi folgte der steinigen Dotty’s Point Road, die sich einen grasbewachsenen Hügel hinaufwand und vor einem Souvenirshop endete, dessen rot angestrichene

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