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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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das Fax zurück.
    Die Glöckchen an der Eingangstür bimmelten und lenkten für einen kurzen Augenblick ihre Aufmerksamkeit ab. Eine Traube von Touristen mit Windjacken drängte herein. Dann ruhten die Augen der Ladenbesitzerin wieder auf Mimi, als ahnte sie, dass gerade gewaltige Kräfte in dieser hübschen Frau mit dem blonden Pferdeschwanz am Arbeiten waren. Und tatsächlich hörte Mimi sich zu ihrer Verwunderung leise das Unfassbare aussprechen. »Ich habe dabei meine Eltern verloren. Sie… sie saßen damals im Flieger.« In ihren Schläfen pochte es. Ihre Stimme zitterte. Diesen Satz, der doch nichts weiter als eine Tatsache war, hatte sie noch nie laut ausgesprochen. Sie hatte mit niemandem je darüber geredet. Selbst mit René nicht. Bis jetzt. Bis sie dieser völlig fremden Frau gegenüberstand, deren Gesicht mit einem Mal von tiefem Mitgefühl gezeichnet war. Rasch kam sie um den Tresen herum und griff nach Mimis Händen. Sie hielt sie ganz fest und sah ihr liebevoll in die Augen. »Es war schlimm, mein Mädchen«, flüsterte sie. »Es war schlimm. Unsere Männer haben geholfen, so gut es ging. Aber die See war an diesem Tag so wild. Die Wellen peitschten nur so gegen die Steilküste. Es tut mir leid, mein Mädchen. Es tut mir leid, was Ihren Eltern widerfahren ist.«
    Mimi blickte hinunter auf ihre Hände, die vollkommen von den warmen Händen der alten Frau umschlossen waren. Diese plötzliche Nähe, die Betroffenheit der Frau schnürten ihr die Kehle zu. »Vielen Dank«, brachte sie mühsam hervor. Und doch zwang sie sich, ein letztes Mal den Namen des Mannes auszusprechen, den sie suchte. »Also wissen Sie nichts von einem Jacques Barreto?«
    Die Ladenbesitzerin drückte Mimis Hände und blickte sie freundlich an. »Nein. Wirklich nicht. Es tut mir leid.« Ihr Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, ließ es aber bleiben. Mimi bedankte sich noch einmal und trat dann in den sonnigen Mittag hinaus. Hier, unter freiem Himmel, fiel ihr das Atmen wieder leichter.
    Am Ende des schmalen Weges, der wieder auf die Hauptstraße traf, drehte sie sich noch einmal um. Die Frau mit dem grauen, geflochtenen Zopf blickte ihr aus dem Fenster nach und hob zum Abschied die Hand. Mimi winkte zurück, zog den Gürtel ihres Mantels fester und ging langsam die Straße entlang, an deren Ende ein lang gestrecktes Holzhaus mit großen Fenstern stand. Das Nor-Western-Restaurant. Hier hatten sich ihre Eltern mit Jacques verabredet.
    Aber auch dort wusste niemand etwas von ihm.
    Die Bedienungen in ihren schwarzen Kitteln und weißen Schürzen waren allesamt halb so alt wie Mimi. Teenager, die hier ihren Sommerjob ableisteten. Ratlos standen sie in dem leeren Gastraum, von dessen holzvertäfelter Decke Petroleumlampen hingen, und gaben sich alle Mühe zu überlegen, wer Jacques Barreto hätte sein können. Aber auch ihnen fiel niemand ein.
    Nur an einem der Holztische, ganz hinten an der Fensterfront, die den Blick aufs Meer freigab, saß ein Mann mittleren Alters und las Zeitung. Plötzlich hob er den Kopf und sah Mimi zwischen dem Gebälk hindurch direkt in die Augen. Dann nahm er seinen Kaffeebecher und trank ihn aus.
    Mimi bedankte sich bei den Teenagern und wendete sich zum Gehen. Am Eingang blieb sie an einem großen, mit Algen überzogenen Aquarium stehen, in dem ein angeblich über hundert Jahre alter Hummer träge über die Steine kroch. Wehmütig schaute sie das teerschwarze Krustentier mit den riesigen Zangen an. Ein Zeuge aus dem Meer. Wenn er doch nur hätte reden können! Vermutlich war er der Einzige auf der ganzen Welt, der Mimi hätte weiterhelfen können.

19

    Dotty’s Cove, 2013
    Nachdem Mimi auch noch einen Fischer, der gerade sein Boot flottmachte, und ein altes Ehepaar, das auf dem Weg zum Leuchtturm war, vergeblich nach Jacques Barreto gefragt hatte, stieg sie hinauf zu den Felsen, die sich wie riesige graue Kissen zwischen dem Land und dem Meer aneinanderschmiegten. Ihre Oberfläche war nicht schroff, sondern weich gerundet. Als könnte man sich auf ihnen bequem zum Schlafen betten. Zwischen den grauen Brocken schoss das Meerwasser empor, dann zog es sich wieder gurgelnd zurück. Mimi sprang von Fels zu Fels, darauf bedacht, nicht mit dem Fuß in eine der Spalten zu rutschen. So gelangte sie vor bis zum letzten gewaltigen Giganten, der sich wie ein Ausguck über die See erhob. Dicht am Rand blieb sie stehen und sah hinunter in die flaschengrünen Wassermassen, die immer

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