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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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wieder in riesigen, schäumenden Wellen angerollt kamen und sich tosend gegen den Fels warfen, als wollten sie ihn verdrängen. Mit jeder Welle schien die Wut des Meeres zuzunehmen, nicht gewillt, jemals aufzugeben. Irgendwann würden diese gnadenlosen, nimmermüden Brecher alles verschlucken. So, wie die Vergangenheit vom Vergessen verschluckt wurde. Würde Mimi jemals hinter das Geheimnis kommen, weshalb Jacques Barreto solche Macht über ihre Familie hatte?
    Ohne dass sie ihn kannte, hatte er es geschafft, auch sie bis nach Neuschottland zu lotsen. Nun stand sie auf der anderen Seite der Erdkugel. Auf dem Fels eines fremden Kontinents. Unter fremdem Himmel. An einem fremden Meer und atmete fremde Luft ein. Sie schmeckte das Salz. Das Salz ihrer Eltern. Der Fels ihrer Eltern. Das Meer ihrer Eltern. Dort unten, im ewigen Spiel der Wellen, weilten Larissa und Jakob. Mama und Papa. Das Meer hatte sie aus ihrer Welt fortgerissen wie zwei Püppchen aus Papier. Hatte sie verschlungen und mit sich genommen, in seinen tiefen, unergründlichen Raum, hatte sie zu einem Teil von sich gemacht. Als hätten sie keine Namen. Keine Geschichte. Kein Zuhause.
    Gerade als Mimi sich zum Gehen wenden wollte, tippte ihr jemand von hinten auf die Schulter.
    Sie fuhr herum. Der Mann, der eben noch im Gastraum vom Nor-Western gesessen und seinen Kaffee getrunken hatte, lächelte sie an. »Hey!« Sein graublondes Haar, das unter der Wollmütze hervorlugte, war voll und lockig. Seine Augen blinzelten in die Sonne. Er nickte Mimi freundlich zu. »Ich hörte, Sie suchen jemanden?«
    »Ja, richtig.« Verwundert machte sie einen Schritt von den Klippen weg.
    »Sie suchen nach einem Jacques Barreto?« Er vergrub seine Hände in den Taschen seiner roten Windjacke, deren Reißverschluss er bis zum Kinn hochgezogen hatte.
    »Ja, richtig«, sagte Mimi wieder. Es gab ihn also tatsächlich. »Kennen Sie ihn?« Das Tosen des Meeres war so laut, dass sie ihre eigene Stimme kaum hörte. Hier oben im Wind, der ihr immer wieder die Haare ins Gesicht blies, konnten sie sich nicht unterhalten. Also lenkte Mimi ihre Schritte zurück zum Nor-Western-Restaurant, von wo aus sie der Mann durch die Fenster beobachtet haben musste und ihr über die Felsen gefolgt war. Hintereinander kletterten sie hinab zum Parkplatz. Schließlich reichte der Mann ihr die Hand, damit sie von den Gesteinsbrocken ins Gras springen konnte, das sich um den Parkplatz legte, auf dem nur wenige Wagen standen.
    Auf der rückwärtigen Veranda des Hummerrestaurants hatte ein Maler seine Aquarellbilder von der Küste mit Wäscheklammern an Holzgestellen befestigt, die nun unter durchsichtiger Folie im Wind flatterten. Nur der Maler war nirgendwo zu sehen. Der Mann blieb auf den Holzstufen stehen, und nun bemerkte Mimi auch die Farbkleckse auf seiner Jacke. Er setzte sich auf die ausgetretenen Stufen und bedeutete ihr, neben ihm Platz zu nehmen.
    »Danke.« Sie sah den Mann abwartend an, der sich ihr jetzt als Finnley vorstellte.
    »Mimi.« Lächelnd reichte sie ihm die Hand. Hatte sie endlich eine Spur? War sie doch nicht umsonst hergekommen? Würde er gleich all ihre Fragen beantworten?
    »Ich kenne diesen Mann nicht, nach dem sie suchen …«, erklärte Finnley zu ihrer Überraschung und rückte seine Mütze zurecht.
    »Bitte?« Warum war er ihr dann auf die Felsen gefolgt? »Aber …«
    »Aber ich erinnere mich, dass vor langer Zeit Leute hier waren, die ebenfalls nach ihm gesucht haben.« Er blinzelte in die Sonne. »Ein Ehepaar. Sehr nette Leute aus Deutschland …«
    Meine Eltern, schoss es Mimi durch den Kopf. Das mussten ihre Eltern gewesen sein. Warum konnte sich dieser Finnley so gut an sie erinnern?
    »Ich weiß es noch«, fuhr er fort, als hätte er Mimis Gedanken gelesen, »weil es der Tag vor der großen Flugzeugkatastrophe war und weil sie sehr an meinen Bildern interessiert waren.« Mit einer Geste wies der Maler auf seine Aquarelle. »Sie haben sogar eine Extraanfertigung bei mir bestellt, die ich ihnen nach Hause schicken sollte. Sie haben mir nur nie ihre Adresse zukommen lassen, obwohl sie das Bild sofort bezahlt haben. Jetzt liegt es noch immer bei mir und wartet darauf, dass sie sich melden. Außerdem wollten sie mich für eine kleine Aquarellausstellung nach Deutschland holen, weil sie wirklich überzeugt waren von meinem Talent.« Er zuckte seufzend mit den Schultern und lächelte verlegen. »Na ja, damals war ich noch sehr jung und hoffnungsvoll und habe jedem

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