Je länger, je lieber - Roman
Daria damals zur Flucht verholfen. Deine Frau ist bei Mirabella in Kanada.«
»Was?« Jacques sprang auf und setzte sich wieder. Er hatte es von der Sekunde an gespürt, in der Emilio hereingekommen war. Er hatte es gespürt. »Daria ist bei ihr? Wieso? Seit wann? Wo ist Pedro?«
Emilio erhob sich, wobei er sich gleichzeitig auf Jacques’ Schulter abstützte. »Bleib sitzen. Ich sage es dir gleich.« Er machte ein paar schlurfende Schritte Richtung Fenster. Von da aus sprach er weiter. »Du hast mich mehrfach um Rat gefragt, was nur aus deinem geliebten Weingut werden soll, wenn du nicht mehr hier in Südfrankreich bist. Und ich habe die Antwort für dich.«
Jacques drehte sich zu Emilio um. Dieses Gespräch kam ihm seltsam zerfasert vor. Er wollte sich jetzt nicht auch noch mit der heiklen Frage der Nachfolgerschaft auseinandersetzen. Die lag ihm schwer genug im Magen. Dieses Weingut, das er mit viel Mühe, Kraft und Sorgfalt zum Besten seiner Gegend hatte gedeihen lassen, wollte er nicht irgendjemandem übergeben. Das musste wohl überlegt sein, und dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Er wollte nur wissen, was mit Daria und seinem Sohn war. »Emilio, lass uns später über das Thema …«
Doch sein Schwiegervater hob abwehrend die Hand. »Lass mich ausreden. Charlotte rief mich an, um mich zu bitten, mit Mirabella zu sprechen. Deine Mutter wollte ihr Gewissen erleichtern, bevor sie diese Welt für eine bessere verlässt. Sie wollte zuerst mit mir reden, um dich vorzubereiten.«
Jacques wusste nicht, wovon Emilio gerade sprach. Das alles überstieg sein Fassungsvermögen. Er starrte ihn an. »Erzähl mir endlich die verdammte Geschichte!«
Der alte Mann stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf. »Ich will damit sagen, dass Daria damals deine Mutter um Hilfe gebeten hat, sie hier wegzuholen, um dir und deinem Glück nicht länger im Weg zu stehen. Deine Mutter tat ihr den Gefallen und holte sie nach Kanada, wo sie mit ihrem Charles Champlain und ihrer kleinen Tochter Charlotte lebte. Sie besorgte Daria Arbeit und Pedro eine gute Schule. Sie hatte Daria versprochen, dir und uns nichts zu sagen. Das Ganze ging eine Weile gut, bis …«
»Bis was?« Jacques stand nun doch von seinem Stuhl auf und trat neben Emilio ans Fenster, vor dem sich die hohen Platanen des Vorplatzes wiegten. Hinter den Stämmen schimmerte ein hellblauer Pkw, kein Umzugswagen.
»Bis Daria einen furchtbaren Unfall hatte. Seitdem sitzt sie im Rollstuhl und ist mehr oder weniger ans Haus gefesselt. Sie hat niemanden, der sich in ihrem Zuhause in Lunenburg um sie kümmern könnte. Charles ist, wie du weißt, schon seit einigen Jahren tot, und Charlotte, deine Halbschwester, lebt allein mit ihren beiden Kindern in Montreal. Also hast du vielleicht Interesse, deiner Frau zumindest einen Besuch abzustatten? Ich bin zu alt, um noch ein Flugzeug zu besteigen. Aber du könntest dich zumindest mit ihr aussprechen und mit eurer Vergangenheit Frieden schließen. Sie weiß noch nichts davon, dass deine Mutter mir die ganze Geschichte gebeichtet hat.«
»Emilio, ich bitte dich. Ich kann dir nicht so schnell folgen. Es klingt alles so unwirklich. So unwahr. So entsetzlich. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Wo ist Pedro?«
»Er ist hier«, unterbrach Emilio ihn hastig und wies mit zittrigem Zeigefinger zum Wagen hinüber. »Er ist hier. Dort vorne wartet er in seinem Auto auf uns, bis wir herauskommen. Er wird das Weingut übernehmen. Er ist hier aufgewachsen. Und er hatte einst den besten Lehrer, der ihn die Grundkenntnisse des Weinanbaus gelehrt hat, die er später als junger Mann in Kalifornien vertiefte. Er ist hier zu Hause.«
Jacques blickte hinaus auf den von Platanen überschatteten Sandplatz. In diesem Augenblick wurde die Wagentür aufgestoßen. Ein groß gewachsener Mann um die vierzig baute sich in dem Lichtstrahl auf, der zwischen den hohen Bäumen hindurchfiel und sich auf dem Sandboden als heller, vibrierender Kreis abzeichnete. Er trug ein weißes Oberhemd, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt waren, und ausgewaschene Jeans. Sein nussbraunes Haar fiel ihm in die Stirn. Sein Blick hatte etwas Nachdenkliches, Melancholisches. So, wie Jacques in seinem ganzen Leben nur ein einziges Mal derart sentimentale Augen gesehen hatte – bei seinem Sohn.
Er kam direkt auf das Haus zu.
»Pedro!« Jacques rannte Emilio beinahe um auf dem Weg nach draußen.
»Pedro!« Unter dem rauschenden Blätterdach schloss er seinen
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