Je mehr ich dir gebe (German Edition)
möchte ich auch bleiben.«
Julia schaut Charlotte an. Ihre beste Freundin versteht sie nicht! Niemand kann sie verstehen – nur Kolja!
»Du hast echt keine Ahnung, Charly. Das mit Jonas ist was total Außergewöhnliches. Ich weiß genau, dass er hier irgendwo ist und dass er zu mir will. – Er erscheint in meinen Träumen und …«
»Träume sind Träume, Julia. Da verarbeitet das Gehirn gespeicherte Eindrücke und erzeugt Bilder. Mehr nicht. Das hat nichts mit der Realität zu tun – und in der leben wir nun mal.«
»Aber in dem Film Der Himmel über Berlin geht es um Engel, die für die Liebe ihre Unsterblichkeit aufgeben müssen.«
Julia entgeht nicht, wie Charly die Augen verdreht.
»Okay, okay. Du hast es ja gerade selber gesagt: in dem Film. Ein Film ist ein Film. Fiktion, wenn ich mich nicht täusche …«
»Wieso bist du eigentlich so spöttisch, Charly? Glaubst du, ich bin verrückt oder was?«
»Nein, Julia. Aber langsam mache ich mir Sorgen um dich. Du bist so abwesend, die ganze Zeit. Es dreht sich alles nur um Jonas – ich meine, Trauern ist ja wichtig und gut, aber ich finde, das ist kein Trauern mehr, was du machst –, du willst es einfach nicht wahrhaben, was passiert ist, und flüchtest dich in eine Film- und Traumwelt.«
»Du sprichst wie so eine Psychotante und verstehst überhaupt nichts!« Julia ist jetzt echt sauer, sie will so schnell wie möglich mit Kolja darüber reden. Charlotte versteht sie einfach nicht! Seltsam, dabei waren sich immer so nah – und so ehrlich zueinander. Na ja, ehrlich ist Charlotte ja immer noch, nur auf dem falschen Dampfer. Im Leben kann man eben nicht alles aus- und berechnen und schon gar nicht logisch überblicken. Aber das schnallt sie einfach nicht. Kein Wunder, dass sie noch nie einen richtigen Freund hatte. Jungs stehen nicht so auf gefühlsarme Mädchen, die nur gut rechnen können. Jawohl, Charly ist gefühlsarm, sonst würde sie wenigstens versuchen, Julia zu verstehen. Arme Charly! Wie soll sie auch verstehen, was Julia fühlt, wenn sie selbst noch nie richtig verliebt war?
»Es gibt Leben und es gibt den Tod. Und sonst gibt es nichts«, sagt Charly. »Das hört sich vielleicht knallhart an, aber es ist einfach so. Geistige Welten erschaffen wir uns selber, weil wir die Realität nicht ertragen können – wir haben letztens gerade darüber im Physikunterricht gesprochen.«
»Physik, Physik«, äfft Julia sie nach. »Und was ist dann mit den Religionen? Wenn alles so klar wäre – Leben oder Tod und sonst gar nichts –, dann könnte es auch keinen Glauben geben.«
»Den Glauben haben die Menschen nur, weil sie zu schwach sind, um die Realität zu ertragen, und aus Tradition natürlich. Die kann man nicht einfach abstellen.«
»Dann könnte es aber keine gläubigen Physiker und Mathematiker geben.«
»Doch«, sagt Charly. »Das sind die Leute, die die Welten trennen. Eine Welt des Glaubens, die sie nicht mit ihrem wissenschaftlichen Verstand hinterfragen, sondern parallel laufen lassen.«
»Nennt man das nicht schizophren?«
»Das ist Auslegungssache – und eine Frage der Toleranz. Sonst könnten sich Wissenschaftler ja auch nicht verlieben, denn man kommt ja immer mehr zu der Annahme, dass Gefühle aus chemischen Prozessen im Gehirn bestehen.«
»Wenn du das so siehst … kein Wunder, dass es dich nie richtig erwischt. Ich finde, die Liebe ist aber stärker als alle chemischen Prozesse im Gehirn.«
»Sagst du.«
»Und was sagst du?«
»Das eine schließt das andere nicht aus. Nur weil wir heute wissen, dass das Herz nicht der Sitz der Seele ist, sondern nur ein Muskel, der Blut durch unseren Körper pumpt, ist die Welt ja nicht weniger romantisch geworden.« Charly strahlt. Mit ihrem neuen Haarschnitt sieht sie frecher aus. »Ist doch echt interessant, oder? Aber um wieder auf den Punkt zu kommen, du musst erst einmal akzeptieren, dass Jonas nicht mehr da ist, um wieder Boden unter den Füßen zu kriegen. – Es gibt kein Leben nach dem Tod, nur die Sehnsucht danach. Und ich glaube auch nicht an eine Seele, sondern nur an eine Art Gewissen.«
Charly kann einen faszinieren, aber auch echt nerven mit ihren knallharten Theorien, besonders wenn sie nicht lockerlässt. Und dann ist sie auch noch so überzeugt von dem, was sie sagt, wie jetzt von dem Gewissen. Man könnte sich direkt die Zähne an ihr ausbeißen! Julia reicht’s. Von ihr aus könnte Charly jetzt gehen oder wenigstens die Klappe halten, aber Charlotte
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