Je mehr ich dir gebe (German Edition)
wenn du das so deutlich spürst?«
Sie stehen dicht voreinander. Kolja streicht sanft über ihre Arme, mit dem richtigen Druck. Wie vertraut er ihr schon ist – einerseits. Kaum fasst er sie an, ist es, als würde Jonas sie streicheln – andererseits auch völlig fremd. So wie jetzt. Er ist nämlich nicht Jonas. Verrückt, wie klar ihr das plötzlich wird, obwohl es ja weiß Gott offensichtlich ist und sie das auch noch nie verwechselt hat, auch wenn sie gerade die Überschneidung der beiden so sehr braucht. Es brennt wieder in ihr, aber nicht mehr von Koljas Lupenblick, sondern vor Schmerzen. Die Schere ist wieder da, schnippelt in ihren Eingeweiden herum. Sie stützt sich am Tisch ab, ihr Herz – ein zähes Stück Fleisch.
Klack-Klack-Klack – und umdrehen. Klack-Klack-Klack – und zurück.
Wunde Lippen, zerzauste Haare und in der Blumenvase kein Mohn.
Es ist, als stünde Kolja vor ihr, auf einer Bühne, und verkünde, Jonas sei im Jenseits.
Kitty hatte gesagt, dort sei er noch nicht angekommen, und sie solle ihn loslassen, damit seine Seele Ruhe findet.
»Jenseits?«, fragt sie. – Es ist, als stünde jemand hinter ihr und schlage ihren Herzschlag, als wäre sie eine hohle Trommel, einem fremden Rhythmus unterlegen. – Schneller und schneller. Die Luft wird knapp. Der Körper atmet in der Regel automatisch. Wenn wir ihn lassen, holt er sich so viel Sauerstoff, wie er braucht, und was er nicht braucht atmet er wieder aus. Beobachtet euch, schaut euch von außen an! Ihr bestimmt, was mit euch geschieht. Lasst euch nicht das Ruder aus der Hand nehmen, auch nicht beim Atmen.
Julia konzentriert sich auf einen Punkt, drei Fingerbreit unter ihrem Nabel. Sie atmet auf diesen Punkt zu. Es braucht ein bisschen, bis sie ihn trifft, aber dann hat sie ihn und ihr Herzschlag pendelt sich wieder ein.
»Ich dachte, du glaubst nicht ans Jenseits?«, fragt sie.
»Doch. Klar. Du nicht?«
»Bitte?«
»Natürlich glaube ich ans Jenseits, Julia. Irgendwo muss Jonas ja sein.«
»Ich weiß nicht«, hört sich Julia sagen. »Ich glaube an die Liebe.« Ihr Blick schweift zum Fenster. Und jetzt kommt sie sich wirklich vor wie in einem Theaterstück. In Romeo und Julia zum Beispiel – wie absurd doch manchmal alles ist! Und das Stück geht noch weiter:
»Ich glaube auch an die Liebe«, sagt Kolja. »Meine Liebe zu dir ist so tief, Julia, das kannst du dir nicht vorstellen …«
»Und lässt sie noch eine Verbindung mit Jonas zu?«
Kolja schaut sie groß an. »Zweifelst du etwa daran?«
»Ja, wenn du so eifersüchtig bist.«
»Ich bin doch nicht eifersüchtig, Julia!«
»Was denn dann? So, wie du dich aufführst.«
»Ich habe gesagt, es tut mir leid, Julia, und ich schäme mich dafür. Ich weiß, ich raste manchmal zu schnell aus, aber ich kriege mich auch schnell wieder ein. Und ich habe dir auch gesagt, dass es in Ordnung ist, wenn du an Jonas denkst, wenn wir …«
»Ja«, fällt Julia ihm ins Wort. »Das hast du gesagt, aber ist das auf die Dauer nicht komisch, ich meine …«
Sie weiß nicht mehr weiter. Es ist plötzlich alles so verwirrend, sobald sie ihre Situation klar formulieren will. Kolja greift wieder nach ihren Handgelenken. »Lüg mich einfach nie wieder an, und mach nicht alles kaputt, was wir haben«, sagt er leise und drückt zu. Seine Augen sind pechschwarz, sie verdunkeln sein ganzes Gesicht.
»Du tust mir weh!«, sagt sie. Er lässt sie los, rauft sich die Haare.
»Das ist das Letzte, was ich möchte, dir wehtun«, flüstert er. Sie geht einen Schritt zurück, möchte allein sein, sich ausruhen, nachdenken, aber sie traut sich nicht, Kolja wegzuschicken, hat Angst, dass er wieder ausrastet, erträgt es aber auch nicht, hier länger mit ihm in ihrem Zimmer zu sein, mit dem kleinen Altar auf der Kommode und Jonas’ Lederjacke unter dem Bett.
»Komm«, sagt sie. »Lass uns ins Schwimmbad gehen. Die Sonne scheint.«
Julia fischt ihr Handy aus ihrer Tasche, wählt, bevor er widersprechen kann. »Ich rufe Charly an, vielleicht kommt sie auch mit. Und meine Freundin Helen – die wollte ich dir ja schon so lange vorstellen.«
Sie weiß, dass Kolja keinen Bock auf ihre Freundinnen hat, aber darauf kann Julia jetzt keine Rücksicht nehmen. Es ist das erste Mal in diesen Ferien, dass sie Lust hat, ins Schwimmbad zu gehen. Schwimmen tut gut und kühlt ab. Außerdem soll das Badewetter morgen schon wieder vorbei sein. Das muss man schließlich nutzen!
KAPITEL 31
Im Schwimmbad II
Es
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