Je mehr ich dir gebe (German Edition)
stellt die Dusche aus, lässt sich von ihm abtrocknen.
Dieses Gefühl, von Jonas angereichert zu sein, hält zweieinhalb Tage. Dann ist es verbraucht. Kein Treibstoff mehr übrig. Manchmal kann sie es durch Kolja wieder auffüllen, manchmal reibt sie sich auch nur wund an ihm. Er ermuntert sie mehr und mehr, an Jonas zu denken, wenn sie zusammen sind, weil sie dann so weich und offen sei, glücklich, und was gibt es Schöneres, als Julia glücklich zu sehen? Er schenkt ihr ein schwarzes Negligé mit passendem Spitzen-String, Strapsen und Strümpfen. Oh la la. Sie probiert alles zu Hause an, sitzt vor dem Spiegel und spürt Jonas’ Blick. Aber es ist anders. Es ist nicht, wie es mal war. Sie kommt sich verkleidet vor. Außerdem muss sie immer an den goldenen Schuh denken – und den Ring. Den mag sie gar nicht mehr aufsetzen. Manchmal tut sie es nur, um Ruhe zu haben, damit Kolja nichts sagt.
Er bittet sie, den schwarzen String für ihn anzuziehen. Gut. Wenn es nur der String ist. Unter seinem Blick kommt jedoch der erhoffte Zauber nicht auf, im Gegenteil, sie mag sich ihm nicht zeigen, nicht mit diesem Vorführeffekt. Also zieht sie gleich wieder ihre Unterwäsche an. Es ist ja nicht so, dass sie Oma-Schlüpfer trägt.
Sie versucht, sich nicht mehr jeden Tag mit ihm zu treffen. Er will sie aber sehen. Sie schiebt die Schule vor. Es gibt wirklich viel zu tun. Sie möchte überall mitkommen. In Deutsch haben sie eine Referendarin Frau Herrlich. An den Namen muss man sich gewöhnen, aber die Frau ist tatsächlich herrlich. Frisch und lustig, und völlig besessen von Literatur. Sie will viel lesen mit der Klasse, auch Theaterstücke besprechen und ins Theater gehen. Zuerst werden sie Amor und Psyche lesen, ein antikes Märchen des Schriftstellers Apuleius. Julia ist neugierig. Aus der Antike kennt sie noch nichts. Frau Herrlich sagt, es sei eine fantastische Liebesgeschichte, in der es um Irrtum, Leiden und Erlösung gehe, eine Liebesgeschichte, die sozusagen immer modern bleibe.
»Mir ist alles recht, nur nicht wieder Fontane«, hat Basti, der Klassenclown, dazu gesagt.
Julia hat Deutsch als Leistungsfach gewählt und Englisch, ist auch ganz zufrieden mit dem neuen Stundenplan. Sie hat sich auch schon daran gewöhnt, dass sie jetzt nicht mehr im Klassenverband sind, sondern zusammengewürfelte Kurse. Charly hat es nicht so gut getroffen. Sie hat die Leistungskurse Physik und Geografie und ist mit nur einem Mädchen in beiden Kursen, der schulbekannten Made . Die Made ist ein blasses, pummeliges Mädchen, die sich nur für den Unterricht und nichts anderes interessiert. So sieht sie auch aus, als wäre sie frisch aus den Fünfzigern hergebeamt worden, mit Halbschuhen, knielangen Röcken und Strickjacke.
»Und die Jungs? Was Interessantes dabei?«
»Ich hab immer noch keinen richtigen Überblick.«
Mit Leon Haase geht es irgendwie nicht weiter, und mit diesem Tom, dem Sandkasten-Kumpel von Helen, hat sich auch nichts ergeben, obwohl Charly ihn ganz cool fand. Charly liebt halt nur Neutronen. Wahrscheinlich ist sie selbst ein Neutron.
Am Montag ruft Anne an, erinnert sie daran, dass Dienstagnachmittag die nächste Sitzung sei. Julia will aber nicht hingehen. Ihre innere Stimme sagt ihr, dass sie vorsichtig sein soll, dass Jonas keinen Bock auf Kitty hat, dass sie ihn ganz allein treffen kann. Das schafft sie schon mit der Zeit.
»Nächsten Dienstag geht nicht«, hört sich Julia sagen. »Da habe ich Singstunde. Die kann ich auf keinen Fall absagen. Ich hab doch bald Aufnahmeprüfung.«
»Wie schade«, sagt Anne. »Aber können wir uns heute Abend auf ein Stündchen treffen? Ich erzähl dir dann was.«
»Was denn?«
»Etwas über Kolja.«
»Über Kolja?«
»Ja, aber das sage ich dir lieber persönlich. Nicht am Telefon.«
»Lass uns noch mal telefonieren, ja? Ich muss jetzt los, auch zum Singen.«
Das war nicht mal gelogen. Sie übt das Lied Lili Marleen . Gar nicht so einfach, aber sie ist schon besser geworden. Sie hätte nie gedacht, was das Singen mit ihr macht, es ist, als käme sie sich selbst mit ihrer Stimme näher. Das tut gut, macht sie weich und offen, wenn nur noch ihre Stimme da ist und ihr Atem, dann ist alles ruhig und gut. Singen bringt sie aber auch zum Weinen. Sie hat viel geweint in der letzten Woche und es hat nie mehr so wehgetan wie das Weinen nach dem Unfall. Das war purer Schmerz und Verzweiflung. Beim Sing-Weinen fühlt es sich an, als würde sie damit ihre Seele streicheln. Sie
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