Je mehr ich dir gebe (German Edition)
ist – im Gegensatz zu Charly – voll davon überzeugt, dass sie eine Seele hat, nicht nur als Gewissen, sondern gewissermaßen als Organ, auch wenn sie nicht genau weiß, wo sie sitzt. Okay, im Herzmuskel vielleicht nicht, aber irgendwo in der Gegend, weiter unten – ein Schleier unter der Bauchdecke vielleicht, der Schwingungen auslöst – ein Urgefühl, das Jonas auch in ihr erwecken konnte, wenn er sie berührte oder sie sich ihm gezeigt hat. Und ganz früher konnte es auch ihre Katze, wenn Mocca auf ihrem Schoß lag, wie ausgegossen, und schnurrte. Diese Vibrationen von Zufriedenheit, Geborgenheit und Vertrauen übertrugen sich auf sie. Vielleicht ist die Seele ja eine Katze – oder ein Schleier unter dem Zwerchfell, der 21 Gramm wiegt. So viel, hat sie letztens gehört, soll die Seele wiegen. Es gibt auch einen Film, der 21 Gramm heißt, von einem mexikanischen Filmemacher. Den muss sie sich unbedingt mal mit Charly anschauen, damit die endlich schnallt, dass es eine Seele im Körper gibt. Das spürt man doch allein schon beim Singen! Zuerst hatte sie sich dagegen gesträubt, vom Singen ins Weinen hinüberzugleiten, sobald sie es aber zuließ und nicht mehr unterdrückte, fühlte sie sich völlig frei. So musste es Sinead O’Connor ergangen sein, bei ihrem Lied Nothing compares to you . Wie oft hatte sie sich den Clip angeschaut und jedes Mal mitgeweint.
Julia singt und weint. Bis zur Aufnahmeprüfung muss sie das allerdings im Griff haben, singen, ohne zu weinen. Das kriegt sie schon hin. Sie zweifelt auch nicht mehr an sich. Sie will es schaffen und wird es schaffen, sie muss sich nur voll auf den Schauspielunterricht konzentrieren. Da kann Kolja sie noch so drängen, sich das alles noch mal genau zu überlegen. Er behauptet ja, sie verbringe zu viel Zeit mit ihrem »Schauspielkram« anstatt mit ihm, was gar nicht stimmt, weil sie doch jeden freien Moment bei ihm ist. Er möchte aber, dass sie noch mehr Zeit mit ihm verbringt. Er sagt, er sei süchtig nach ihr, es gebe keine Sekunde, wo er sich nicht nach ihr sehne. Irgendwie hört Julia das nicht so gern, obwohl es ja ein riesiges Kompliment ist.
Wenn sie sich heute Abend mit Anne trifft, braucht sie eine gute Ausrede. Kolja möchte ja nicht, dass sie mit Anne rumhängt. Sobald sie Anne nur erwähnt, rastet er neuerdings schon aus und macht sie gleich runter, so wie letztens, als er sie von der Schule abgeholt hat und sie auf Anne zu sprechen kamen. Julia wollte dann wissen, was er eigentlich gegen Anne habe.
»Nichts, aber diese Hexe ist doch wirklich so was von bescheuert! Wenn sie nur den Mund aufmacht …«, schimpfte er wieder los, von 0 auf 100.
Julia wollte das nicht so stehen lassen, sie hatte auch Lust, ihm zu widersprechen. »Also, ich finde sie nett«, sagte sie. Da rastete er ganz aus.
»Nett, nett … Es geht hier nicht um nett. Anne hat einen schlechten Einfluss auf dich. Sie labert dich voll mit ihrem esoterischen Kram, das verkraftest du nicht.«
»Ich weiß ganz gut, was ich verkrafte und was nicht.«
»Hat sie dir noch nie was angeboten aus ihrem Hexenhut? Oder dir ihre Wahrsagerkugel gezeigt? Glaub ihr kein Wort! Sie bringt es fertig und verspricht dir Kontakt mit …«
»Mit wem?«, fiel Julia ihm ins Wort.
Er kniff die Augen zusammen, als müsste er scharf nachdenken. Und sofort wurde er lammzahm. »Sorry, ich will nicht schlecht über sie reden.«
»Hast du aber gerade!« Julia hielt seinem Blick stand. Sie mag es nicht, wenn er sich so schnell entschuldigt und dann das Thema wechselt, als wäre nichts gewesen.
»Ich habe nur Bedenken, sie könnte dir Flausen in den Kopf setzen. Du hast sowieso schon viel zu viel um die Ohren. Da kannst du nicht noch auf so einen Hokuspokus hören. Die Schauspielerei zehrt total an dir und nimmt dir schon die ganze Kraft.«
»Nein, sie gibt mir Kraft!«
Kolja seufzte. »Weißt du, ich liebe dich nicht nur, ich spüre auch, wie viel Energie du hast. Und du läufst immer noch auf dem Zahnfleisch. Ich muss dich beschützen.«
»Wovor denn beschützen, verdammt noch mal?«
»Vor zu vielen Einflüssen. Und vor Geistergefasel. Glaub mir, du bist so zart, so rein …« Er nahm sie in die Arme und klammerte sich ganz fest an sie. »Ich wüsste wirklich nicht, was ich ohne dich machen sollte«, sagte er und klammerte sich noch fester an sie.
»Ich ja auch nicht«, antwortete sie und spürte das Bedürfnis, sich in seine Arme zu schmiegen, aber seine Muskeln waren angespannt,
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