Je mehr ich dir gebe (German Edition)
hart.
Warum war er nur so aggressiv Anne gegenüber?
Vielleicht sollte sie doch noch mal zu einer Sitzung gehen, nur noch einmal, um die Gestalt deutlicher zu sehen, die auf sie zugekommen war. – Und vielleicht würde Jonas ihr dann endlich das sagen können, was er ihr schon die ganze Zeit in ihren Träumen sagen wollte.
KAPITEL 32
Manchmal waren es auch Kirschen
Papa hat ihr heute Morgen fünfzig Euro geschenkt, einfach so. »Für die guten Noten, die jetzt bald wieder kommen«, hat er gesagt, und dass Ansporn die beste Motivation sei, im neuen Schuljahr am Ball zu bleiben. Sie wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, aber das hat sie schon so lange nicht mehr getan.
Julia sitzt im Klassenzimmer, an der Fensterfront. Sie haben gerade Politik. Wenn sie doch nur mit jemandem über diese Sitzung bei Kitty reden könnte! Aber mit wem? Charly würde sich nur lustig machen und sie als total plemplem abstempeln.
Frau Meyer erzählt von starken Frauen in der Französischen Revolution, allen voran Olympe de Gouges, die nicht nur Frauenrechtlerinnen dabei unterstützte, eigene revolutionäre Vereine zu gründen, sondern die radikal zum Kampf gegen die Männer aufrief: Ihr Frauen, wann wird eure Verblendung ein Ende haben?!
Julia schaut aus dem Fenster, denkt an die fünfzig Euro in ihrer Jeans und fragt sich, wann sie eigentlich ihren Vater das letzte Mal umarmt, mit ihm geschmust hat. Sie kann sich sehr gut an das Gefühl erinnern: warm und fest, er hatte sie gehalten und an sich gedrückt. Seine Bartstoppeln hatten gepikst. Wann das letzte Mal war, weiß sie nicht mehr. Es muss noch in der Grundschulzeit gewesen sein, mein Gott, ist das schon lange her! Mindestens sieben Jahre! Verrückt, wie sich das anhört! Noch nie hatte sie so eine lange Zeitspanne vor Augen. – Was in den letzten sieben Jahren alles geschehen war und was in den nächsten sieben Jahren wohl alles geschehen wird …
Frau Meyer legt eine neue Folie auf den Overheadprojektor. Olympe de Gouches’ Biografie in Stichworten. Das sollen sie bitte abschreiben. Und wer würde das von ihr 1791 verfasste Werk Die Rechte der Frau lesen und ein Referat darüber halten?
Basti meldet sich und alles lacht.
»War ’n Scherz«, sagt er. Frau Meyer versucht ihn zu überreden. Er winkt ab. »Nee, wirklich nicht. Ich bin nicht so für Theorie, eher für praktizierende Emanzipation!« Dafür kriegt er tosenden Applaus von der Mädchenseite.
Julia hat noch nicht alle Daten abgeschrieben, da entdeckt sie diesen unruhigen Fleck. Unten links auf der Folie des Overheadprojektors ist irgendein Gekrakel – weit weg von den Notizen, aber irgendwer hat da herumgekritzelt. Vielleicht ein Kind? Frau Meyer hat zwei kleine Kinder, die sie manchmal mit ihrem Mann von der Schule abholen. Das Gekritzel sieht wie eine Figur aus. Je länger Julia darauf schaut, desto bekannter kommt es ihr vor. Dann nimmt Frau Meyer die Folie weg. Julia hat noch nicht alle Punkte abgeschrieben. Sie schreibt sie von ihrer Nachbarin ab.
Als Frau Meyer wieder anfängt zu reden, schaut Julia aus dem Fenster. Ihre Gedanken mischen sich mit den flirrenden Blättern draußen, durch die Sonnenstrahlen blinzeln. Plötzlich sieht sie eine Gestalt. Dann ist sie wieder verschwunden. Julia lehnt sich zurück, es ist, als drängten Lichtstrahlen durch sie hindurch – als würde sie gescannt – genauso ein Gefühl wie bei der Sitzung letztens. Dann taucht diese Gestalt wieder auf, sie kommt auf Julia zu, immer näher, sie sehnt sich nach dieser Gestalt, gleich kann sie sie erkennen! Die Blätter flirren in der Sonne, alles wird schwarz-weiß, wie in dem Film Der Himmel über Berlin . Julia kneift die Augen zusammen. Ihr schießt das Blut in den Kopf. Endlich kommt er zu ihr und sagt ihr, was er ihr die ganze Zeit schon sagen will. Die Sonne blendet sie, schmerzt in den Augen. Dann merkt sie: Es ist ja gar nicht Jonas! – Jetzt erkennt sie die Gestalt: Es ist sie selbst. Julia!
Ein Lieferwagen fährt auf den Schulhof und alles wird wieder bunt. Der Wagen parkt direkt vor dem Schulfenster, jetzt gucken alle raus. Frau Meyer sagt, sie sollen jetzt bitte mal das Buch aufschlagen, Seite 14.
Julia sieht grüne, glitzernde Sternchen, rutscht vom Stuhl, hört, wie ihr Kopf auf den Boden rumst. Dann fällt Schnee und alles ist still.
Mama steht neben ihr und lächelt sie an. »Du bist im Krankenhaus, aber nur zur Beobachtung. Keine Angst, alles ist gut, es war nur der Kreislauf.« Mama streichelt
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