Jeder Kuss ein Treffer
langsam auf sie zu. Annie erstarrte und erkannte das Gesicht einer Frau mit langem, dichtem Haar. Es war kaum zu sehen, aber dennoch da. Dann streifte ein kalter Lufthauch ihre Wange, es roch nach Blumen, und Annie spürte, dass etwas um sie herumwirbelte. Die Luft wurde eiskalt.
»Du heilige Scheiße!« Annie taumelte davon, wollte dem entfliehen, was immer es war, aber sie fiel zur Seite, prallte mit dem Ellenbogen gegen die Wand und stolperte über ihre eigenen Füße. An einem Sessel hielt sie sich fest, um den Sturz zu bremsen, und stieß mit dem kaputten Zeh dagegen. Eine Vielzahl von Schimpfwörtern kam ihr in den Sinn, aber sie hatte zu viel Angst, um zu sprechen. Sie musste schnellstens zurück in ihr Zimmer. Annie drehte sich um und lief gegen etwas Festes. Dieser Geist war größer, als sie gedacht hatte.
Sie saß in der Klemme.
»Annie?«
»Aus dem Weg, Wes! Mensch, ich renne um mein Leben!« Annie schlug einen Bogen um ihn, lief in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Dann tauchte sie unter ihre Bettdecke.
Wes steckte den Kopf herein. »Probleme?« Annie murmelte etwas in die Kissen. »Was für ein Gast?«, fragte er.
Annie spähte unter der Bettdecke hervor. In dem Licht, das durch das Fenster hereinfiel, konnte sie Wes kaum erkennen. »Kein Gast. Ein Geist.« Es war schwer, bei klappernden Zähnen etwas herauszubringen.
Wes schloss die Tür, ging zu ihr hinüber und zog die Decke beiseite. »Gut, dass ich hier bin und auf dich aufpassen kann.« Er schlüpfte zu ihr ins Bett.
»Das muss man einfach tun als Mann.« Einen Arm schob er unter Annies Kopf. »Komm mal näher!« Annie kuschelte sich an ihn. »Du zitterst ja. Was hast du denn gesehen?«
»Den Kopf einer Frau mit langem Haar. Sie kam auf mich zu, und alles wurde kalt.«
»Wirkte sie bedrohlich?«
»Nein, aber sie hat mir trotzdem eine Heidenangst eingejagt.« Kurz überlegte Annie. »Ich glaube, ich habe sie schon mal gesehen. Aber da war ich noch ein kleines Mädchen«, fügte sie hinzu. »Oder vielleicht habe ich das auch nur geträumt.« Als Wes nichts erwiderte, hob Annie den Kopf und schaute ihn an.
»Glaubst du mir?«
»Ich glaube, du wolltest mich nur in dein Bett locken.« Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme. »Vielleicht beauftrage ich Leute, hier herumzuspuken, damit ich jeden Abend bei dir schlafen kann.«
Annie grinste. »Tut mir leid mit dem Flanellnachthemd«, sagte sie. »Ich habe nicht mit Gesellschaft gerechnet.«
Wes fuhr mit dem Finger darüber. »Fühlt sich gut an.«
»Es ist bekannt dafür, dass es die Lenden der Männer gefrieren lässt.«
»Du kannst mir glauben, meine Lenden fühlen sich ausgezeichnet. Wenn es denen noch besser geht, muss einer von uns beiden das Feld räumen.« Annie gefiel seine brummende Stimme an ihrem Ohr. Sie musste zugeben, dass es viel netter war, sich an Wes‘ warmen Körper zu schmiegen, als unter einem Stapel Decken zu liegen. »Ich bin froh, dass du hier bist«, sagte sie nach einer Weile. »Ich habe mich irgendwie einsam gefühlt.«
»Ich wäre schon viel früher hier gewesen, wenn ich keine Angst gehabt hätte, dass du mich rauswirfst.«
»Ist lange her, dass ich das Bett mit einem Mann geteilt habe«, gestand Annie.
»Nach der ersten Nacht ist es ein alter Hut.«
»Du gehst also davon aus, dass ich dich wieder einlade.«
»Ich gehe davon aus, dass du mich gar nicht gehen lässt.«
Annie knuffte ihn. Nach einer Weile wurde sie ernst. »Wes, ich habe Angst. Angst, für ein Verbrechen verurteilt zu werden, das ich nicht begangen habe.«
»Ich weiß.«
»Ich habe nicht Angst um mich, aber wenn mir etwas zustößt, wenn die Geschworenen mich wirklich für schuldig befinden und ich ins Gefängnis muss, dann weiß ich nicht, was mit Theenie und Lovelle passiert. Oder mit Erdle, der ist ja auch noch da«, fügte sie hinzu. Sie musste daran denken, wie schlecht er ausgesehen hatte, als sie ihm das Essen gebracht und ihm eine Predigt wegen des Trinkens gehalten hatte.
»Vertraust du mir, Annie?«, fragte Wes.
Sonderbarerweise tat sie das. »Ja.«
»Dann hör mir gut zu: Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, damit du nicht ins Gefängnis kommst.«
»Du glaubst doch nicht wirklich, dass Erdle Charles umgebracht hat, oder?«
»Ein Bekannter überprüft gerade verschiedene Personen. Versuch doch einfach, dir keine Sorgen zu machen. Ich kümmer mich darum, ja?«
Ruhig lag Annie da und fragte sich, wer nach Wes‘ Meinung ihren Mann umgebracht
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