Jeier, Thomas
Im Langhaus eines Irokesendorfes, das mit einem hohen Palisadenzaun und wie eine mittelalterliche Burg mit einem tiefen Wassergraben gesichert war, brauchte man keine Feinde zu fürchten. Die Männer gingen auf die Jagd und versorgten die Familien mit Fleisch, die Frauen bestellten die Felder. Alle Erträge wurden geteilt, niemand brauchte Hunger zu leiden. Der schottische Arzt und Botaniker Cadwallader Golden trat im 18. Jahrhundert als Abgesandter der britischen Kolonialregierung mit den Irokesen in Kontakt und schrieb in seinem für die damalige Zeit geradezu revolutionären Buch The History of the Five Nations (1747): »Der Besitz war bei den Five Nations besser zwischen Männern und Frauen und Alten und Jungen verteilt als in Europa.«
Dennoch stellte man das Allgemeinwohl in der Gesellschaft der Irokesen nicht über das des Einzelnen, ganz im Gegenteil: Ihre Verfassung stellte das Individuum in den Mittelpunkt und erlaubte ein Höchstmaß an Freiheit. So war es jedem Krieger freigestellt, dem Aufruf zu einem Kriegszug zu folgen oder sich dagegen zu entscheiden. Die weißen Kolonisten, die aus der strengen Ordnung eines hierarchisch organisierten Europa kamen und selbst in der Neuen Welt teilweise unter religiöser oder politischer Bevormundung standen, waren höchst erstaunt das solch ein Gesellschaftssystem funktionierte. Ein Engländer soll gesagt haben: »Man erzähle dem Irokesen vom Gehorsam gegen den König, und er lacht, denn er kann den Begriff der Unterwerfung nicht mit der Würde des Mannes vereinen.«
Alle Bewohner eines Langhauses gehörten demselben Clan an. Sie organisierten sich in kleineren Familien, so genannten »Ohwachiras« (Abstammungsgruppen einer gemeinsamen Ahnfrau) und gehorchten der Clanmutter, der ältesten Frau einer solchen Gemeinschaft. Nach der Heirat zog ein Krieger ins Langhaus seiner Frau, und ihre gemeinsamen Kinder gehörten nach ihrer Geburt dem Clan ihrer Mutter an. Den Mitgliedern eines Clans war es verboten, innerhalb ihrer Gemeinschaft eine Beziehung einzugehen. Bei den Mohawk und Oneida gab es jeweils drei Clans: Wolf, Schildkröte und Bär. Bei den übrigen Völkern waren auch Biber, Hirsch, Falke, Schlange, Aal und Falke bekannt. Das Symbol des Clans hing über der Eingangstür des Langhauses und hieß jeden Verwandten willkommen, auch wenn er aus einem weit entfernten Dorf kam. Jeder Clan verfügte über seine eigenen Geschichten, Tänze und Lieder, eigene religiöse Zeremonien und definierte sich durch eine besondere Schöpfungsgeschichte.
Die Rolle der Clan-Mütter
Selbst liberale Europäer wie Cadwallader Golden zeigten sich von der matrilinear organisierten Gesellschaft der Irokesen beeindruckt. Aller Besitz, das Ackerland, die Langhäuser, die Ernte und der gesamte Hausrat gehörten den Frauen. Innerhalb eines Clans hatte die Clanmutter, meist die älteste Frau eines Langhauses, das Sagen. Bei Problemen, ob privater oder kommunaler Natur, berieten sich die Clanmütter eines Dorfes, bevor sie den Häuptlingen ihre Entscheidung mitteilten. Die Häuptlinge waren gehalten, der Entscheidung des Frauenrates zu folgen. Der Rat der weisen Männer besaß lediglich beratende Funktion. Der »Große Rat« der Häuptlinge bestand aus 50 Sachems (Friedenshäuptlingen), die von den Clanmüttern ernannt wurden und lebenslang im Amt blieben - es sei denn, sie handelten gegen das Wohl des Stammes. Kriegshäuptlinge hatten sich im Kampf hervorgetan und gingen mit von ihnen ausgewählten Kriegern auf den Kriegspfad. Sie waren ebenfalls an die Entscheidungen der Frauen gebunden. Beinahe revolutionär, wenn man bedenkt, das den Frauen der weißen Einwanderer das politische Mitbestimmungsrecht erst 1920 zugestanden wurde.
Wie bei den Europäern der damaligen Zeit waren die Pflichten von Mann und Frau bei den Irokesen streng verteilt. Die Frauen kümmerten sich um die Versorgung der Familie, fertigten Hausrat und Kleidung an, sammelten Beeren und Kräuter und trugen Feuerholz zusammen. Kinder wuchsen in der Gemeinschaft auf, lernten von allen Bewohnern eines Langhauses. Auf den Feldern kümmerten sich die Frauen um die Ernte der »drei Schwestern«. So nannten sie Mais, Bohnen und Flaschenkürbisse, die drei heiligen Feldfrüchte, die ungefähr ein Drittel ihres Nahrungsbedarfs ausmachten und ihr Überleben während der strengen Winter garantierten. Mit den Vorräten wuchsen auch ihre Dörfer, selbst Siedlungen mit über 2000 Einwohnern, wie man sie um 1000 nach Christus nur bei
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