Jemand Anders
überhaupt schon fit genug dafür?“
Ich nahm die klassische Bodybuilderpose ein.
„Aber wozu?“
Wieso kann diese Frau nie locker lassen, wieso verbeißt sie sich in alles? Es soll welche geben, die nicken einfach in so einer Situation und wünschen dir einen schönen Ausflug.
Ich gab vor, auf die Toilette zu müssen. Hoffte, die Frage würde sich danach von selbst erledigt haben. Aber das war natürlich eitler Wahn.
„Also?“, sagte sie. Starrte mich an mit verschränkten Armen.
„Ach, nur alte Geschichten. Nichts von Bedeutung.“
Sie sah einen Moment zur Decke. Offensichtlich fand sie dort, was sie suchte.
„Ich will mitkommen!“
Ihre Bestimmtheit überraschte mich, aber ich hatte mich auf dem Klo gewappnet.
„Nein“, sagte ich ebenso entschieden. „Das ist meine Geschichte. Meine Vergangenheit.“
„Betrifft deine Vergangenheit nicht auch mich?“
„Wahrscheinlich gibt es dort eh nicht mehr viel zu sehen. Du würdest dich nur langweilen.“
Das Spielchen ging noch ein paar Minuten hin und her, schlüssig war das alles nicht, was ich an Argumenten vorbrachte. Aber es war mir egal. Ich hatte keine Alternative. Regina wäre mir im Weg, so viel war klar. Noch jemand, der mir im Weg stünde.
Und das wäre eindeutig des Guten zu viel.
*
Es ist, wie wenn du die Brille verlegt hast.
Die sicherste Methode, sie wiederzufinden: den ganzen Weg noch einmal abzulaufen, mit dem Blick auf den Boden gerichtet zurückzugehen bis zu der Stelle, wo du sie das letzte Mal auf der Nase gespürt hast. Über kurz oder lang wirst du über sie stolpern.
Jetzt kommt es nur noch darauf an, sie nicht zu zertreten …
Für die kaum hundert Kilometer lange Strecke habe ich bereits zwei Mal umsteigen müssen. Das letzte Teilstück lege ich in einem Zug zurück, der aus einem einzigen Triebwagen besteht, der Kartenautomat hat auch hier längst den Schaffner freigesetzt. Immerhin wurde die Strecke noch nicht eingestellt, eigentlich ein Wunder angesichts der Sparphilosophie der ÖBB , deren Chefetage mittlerweile Unsummen für Marktanalysen und Studien rausschmeißt, welche belegen sollen, was man auch so weiß: dass das Einstellen von Nebenlinien am profitabelsten ist.
Nach einer langgezogenen Linkskurve taucht unten das städtische Freibad von Gerlach auf. Seine grün-weiß gestrichenen Umkleidekabinen: ein Relikt aus alten Tagen. Auch das Bahnhofsgebäude sieht noch aus wie anno dazumal – erbaut auf einem Granitsockel, gedeckt mit grauem Eternit, und jede Menge Blumenkisten vor den ausgebleichten Fensterläden. Ist die Zeit hier stehen geblieben? Oder ist es Teil der Vermarktungsstrategie, die Atmosphäre der alten Eisenstadt bewusst zu konservieren für den modernen Städtetourismus?
Um mehr von der Stadt zu sehen, entscheide ich mich für den ungeteerten Fußweg entlang des Flussufers, der, wie ich mich zu erinnern vermeine, knapp vor der eisernen Brücke über die Gerlach in die Hauptstraße mündet. Wie sich herausstellt, habe ich mich nicht geirrt – nur dass anstelle der rostbraunen Eisenbrücke, dem flachgelegten Eiffelturm, wie die Brücke im Volksmund genannt wurde, nun eine aus Beton den Fluss überspannt.
Also doch keine Vermarktungsstrategie, eher stadtplanerische Willkür.
Ich überquere das graue Ungetüm und steige die steile, eingehauste Treppe hinauf zum Rosenhügel. Die Sonne blendet mich, als ich aus dem Dunkel trete. Vor mir ragt die Stadtpfarrkirche auf, ein gotischer Wolkenkratzer, der vom wirtschaftlichen Aufschwung Gerlachs im fünfzehnten Jahrhundert zeugt. Im Pfarrhaus nebenan soll Anton Bruckner Teile seiner achten und neunten Symphonie komponiert haben, hier befindet sich auch das erste für ihn errichtete Denkmal.
Unschlüssig stehe ich vor dem Portal. In dieser Kirche habe ich mehr Zeit verbracht als in allen anderen zusammen. Hier überkamen mich einst wohlige Schauer: O ja, das, genau das ist es! Wahrhafte Schönheit, keinem irdischen Zweck dienend, gewidmet allein der höheren Ehre Gottes.
Wie sicher bin ich mir damals gewesen! Luftig leicht und fest verankert zugleich.
Längst ist jede Gewissheit, jede Ehrfurcht zerstoben. Ich habe keinen Henkel mehr zum Anhalten.
Sakrale Prunkbauten, egal welcher Konfession, vermögen mich nicht mehr zu beeindrucken; zu viel weiß ich mittlerweile um ihren Zweck, ihre Funktion. Ihr Prunken prallt ab an mir. Nicht Psalter und Harfe, Psalmen und Choräle tönen in meinen Ohren, nur die Schreie der vom Gerüst gestürzten Sträflinge, die
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