Jemand Anders
Geschmack!
Als ob ausgerechnet jene von der unbefleckten Empfängnis schwärmten, die sonst keine Gelegenheit ausließen, sich durch die Gegend zu vögeln.
Der Ordensleitung waren die Gründe für das Geschenk aus heiterem Himmel jedenfalls egal. Der Herr in seinem unerforschlichen Ratschluss hatte ihnen etwas zukommen lassen, was ideologisch nicht ganz auf der Linie des Wanderpredigers aus Assisi liegen mochte, was jedoch die seelsorgerischen, pädagogischen und gesellschaftlichen Aufgaben des Ordens erheblich erleichtern würde. Man entschied, das Schloss nicht zu verkaufen (was in der damaligen Zeit auch schwierig gewesen wäre, immerhin stand schon wieder ein Krieg vor der Tür), sondern es in ein Knabeninternat umzumodeln. Wobei nicht viel an Umbauarbeiten vonnöten war: Die überdimensionierten Repräsentationsräume verwandelten sich über Nacht in Schlaf-, Studier- und Speisesäle für Zehn- bis Achtzehnjährige. Der größte Saal war mit fünfzig, der kleinste mit achtzehn Betten und Spinden vollgestellt. Zweifelsohne gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht viele Internate, die über derart ausladende Kristallluster, breite Marmortreppen und filigrane Stuckarbeiten verfügten.
Passend zur Gesinnung seiner neuen Herren, vielleicht aber auch in sprachlicher Anlehnung an den Ortsteil Rosenhügel, wurde das Kraglsche Schloss bald in Konvikt zum Heiligen Rosenkranz umbenannt – ein makellos weißes, mit Ecktürmen und Zinnen bewehrtes Bollwerk gegen den wachsenden Unglauben.
Jung und Alt zu Fromm und Nutz, wie es noch hieß, als ich in dieses Bollwerk einzog.
*
Ich hatte den stattlichen Bau anders im Kopf – duftiger, schwebender …
Eine sentimentale Verklärung? Schwer vorstellbar angesichts meiner Erfahrungen in diesen Hallen, deren schiere Kubatur allein schon einschüchterte. Endlos lange Gänge, riesige Säle. Aber kein Quadratmeter, um sich zurückziehen zu können.
Die Mittagsonne steht hoch über den Schlosszinnen und leuchtet die Szene aus wie in einem expressionistischen Film: hart, holzschnittartig. Irgendetwas geht mir ab. Ach ja, der Amorbrunnen! Mehrmals war vom Rektor erwogen worden, ihn zu entfernen. Heidnische Gottheiten passten seiner Meinung nach nicht zu einem christlichen Internat, schon gar nicht der Sohn von Venus und Mars mit seinen Liebespfeilen. Aber irgendwie hat der bronzene Amor vor dem Haupteingang überlebt. Und das, obwohl ihm ein Arm fehlte, ausgerechnet der mit dem Bogen, wodurch der klassizistische Brunnen schon zu meiner Zeit einen desolaten Eindruck machte.
Zu meiner Zeit? Welcher Teufel, Herrgott noch einmal, reitet mich, diese Zeit als die meine zu bezeichnen?
Fünfunddreißig Jahre …
Nicht ein einziges Mal hat es mich in dreieinhalb Jahrzehnten auf den Rosenhügel verschlagen. Auch zu meinen ehemaligen Mitbrüdern hatte ich seither keinerlei Kontakt.
Wenn man von meinem gestrigen virtuellen Besuch beim Pater Provinzial einmal absieht.
Hatte ich mich nicht entschieden, nie mehr an der Vergangenheit rühren zu wollen, weil sie Gift ist für mich? Wie die tödlich präparierten Seiten in Ecos Der Name der Rose .
Kehre nie zurück an den Ort, wo deine Träume zerschlagen wurden, wo man dir die Unschuld raubte. Das schrieb ich vor Jahren in mein Tagebuch. Nun bin ich freiwillig zurückgekehrt an den verbotenen Ort, niemand hat mich dazu genötigt.
Oder ist es umgekehrt: Hat sich das Konvikt mir angenähert, gegen meinen Willen, bin ich immer noch sein Gefangener?
Aber ist es überhaupt eine Frage des Willens? Musste es nicht einfach geschehen, steckt dahinter womöglich eine Gesetzmäßigkeit, von der wir alle nichts wissen?
Ich komme mir vor wie ein Einsiedler, der eines Tages beschließt, sein Eremitendasein aufzugeben. Der seine wenigen Habseligkeiten zusammenpackt und seiner Höhle ade sagt. Der zurückkehrt in die Welt des Lachens, des Weinens, der offenen Plätze, der lauten Feste. Bis er nach Jahren merkt, dass er sie nie wirklich loslassen konnte. Dass er seine Höhle ständig herumgetragen hat mit sich.
Wie ein Pelz, der festgewachsen ist an ihm.
*
Zwei alte Leutchen, mit ihren grauen Haaren und der fast identischen Kleidung erst auf den zweiten Blick als Männlein und Weiblein identifizierbar, schlurfen, gestützt auf ihre Gehhilfen, durch das offenstehende Gittertor. Hinter ihnen, strahlend weiß wie ehedem, vielleicht auch gerade erst frisch gestrichen, die Fassade des Konvikts als theatralischer Prospekt.
Aus dem schönbrunnergelben
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