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Jemand Anders

Jemand Anders

Titel: Jemand Anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kabelka
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meiner retrograden Amnesie jetzt auch noch eine anterograde hinzu? Oder ist das nur die übliche altersbedingte Vergesslichkeit, an der alle mit sechzig plus zu knabbern haben?

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    Mein erster Livemitschnitt wird das heute. Moralisch ist es vielleicht nicht ganz einwandfrei, unsere Unterhaltung heimlich aufzuzeichnen, aber sagen kann ich ihr natürlich nichts davon. Das Bewusstsein, in ein Mikrofon zu sprechen, verändert jedes Gespräch. Wie wenn du fotografiert wirst, während du dein Geschäft verrichtest. Das muss ja zu Verstopfung führen, oder zu Durchfall.
    Was ich mir erhoffe von dem heimlichen Mitschnitt? Dass mir der Klang ihrer Stimme hilft bei meiner Entscheidung. Ich werde mir die Aufnahme so oft anhören, bis es keine Zweifel mehr gibt.
    So wie ich die eigenen Gedanken festhalte, um sie zu ordnen, zu sortieren. Beim Wiederanhören trennt sich schnell die Spreu vom Weizen. Irgendwo habe ich gelesen, dass die Kiowa-Indianer einen großen Stein mit sich herumschleppen, wenn sie ein Problem haben. Ist die Lösung gefunden, werfen sie den Stein weg – erleichtert und befreit, in doppelter Hinsicht …
    Für mich ist das Handy dieser Stein. Wenn es seinen Dienst getan hat, werde ich es ausschalten. So einfach ist das.

1. April 2010
    Erst gestern, beim gemeinsamen Abendessen, habe ich mich zu der Reise entschlossen, spontan ist nicht der richtige Ausdruck dafür. Ich hatte längst die Witterung aufgenommen. Es war schon seit meiner Rückkehr aus der Reha in der Luft gelegen. Ein vager Duft, ein Düftchen, aber nicht zu verleugnen.
    Der Auslöser kam im Doppelpack. Regina und ich sahen die Abendnachrichten im Fernsehen, während die belegten Knäckebrote zwischen unseren Kiefern krachten. Ich drehte den Ton lauter. Zuerst brachten sie die Meldung von dem neuesten Gutachten. Ich stellte das Kauen ein.
    Ein neues Gutachten im Fall Demjanjuk.
    Die soundsovielte Gerichtswoche. Keine Fortschritte. Seine Erinnerungslücken klafften wie eh und je.
    Dann der Beitrag über den feierlichen Klage- und Bußgottesdienst im Stephansdom. Kirche zeigt Reue , lautete die Schlagzeile. Der Kardinal höchstpersönlich stand am Altar, viele Größen der österreichischen Politik hatten sich eingefunden. Ein Gottesdienst zu Ehren der kirchlichen Missbrauchsopfer. Nur 1989, als die letzte Habsburgerkaiserin hier aufgebahrt wurde, hätten sich noch mehr Politiker im Dom versammelt, erklärte der Moderator.
    Ich ging hinüber zum Schreibtisch und schaltete den PC ein.
    „Ich glaub’s nicht“, staunte Regina, „Edgar am Computer! Es geschehen noch Zeichen und Wunder.“
    Zuhause gehe ich praktisch nie an den Rechner, Regina beantwortet zum Glück sogar die an mich gerichteten Mails. Aber nun hatte ich etwas zu überprüfen. Ich googelte die Website der österreichischen Franziskaner und fand auf Anhieb, was ich suchte: die offizielle Stellungnahme des Pater Provinzial zum momentanen Thema Nummer eins.
    Die Diktion überraschte mich nicht: Tiefe und schmerzliche Betroffenheit empfinde man darüber, dass jetzt auch gegenüber der franziskanischen Bruderschaft solch schreckliche Anschuldigungen im Raum stünden. Allfällige Übergriffe in ehemaligen Bildungs- und Erziehungseinrichtungen des Ordens seien natürlich ohne Wissen der Obrigkeit erfolgt, man werde allen Vorwürfen sorgfältig nachgehen . Für schon verstorbene Beschuldigte könne nur noch um Vergebung gebeten werden. Was geschehen sei, ließe sich allerdings nicht mehr ungeschehen machen , und so weiter und so fort.
    Ich kehrte zurück auf die Couch. Der Kardinal breitete ein letztes Mal seine Arme aus und richtete einen leidenden Blick gen Himmel. Als ob er ausdrücken wollte, dass die Opfer bestimmt von höchster, von allerhöchster Stelle entschädigt würden. Nicht mit schnödem Mammon allerdings, wie manche sich vielleicht erhofft hatten, sondern mit himmlischem Manna.
    „Habe ich morgen was Wichtiges zu erledigen?“, fragte ich Regina.
    „Woher soll ich das wissen?“, gab sie zurück. Manchmal hört sie sich recht unwirsch an. Aber sie meint es nur selten so.
    „Ich wollte nur wissen, ob wir etwas ausgemacht haben. Etwas, das sich nicht aufschieben lässt.“
    „Nicht, dass ich wüsste.“
    „Gut. Dann wirst du mich einen Tag lang entbehren müssen. Vielleicht auch zwei. Ich werde nach Gerlach fahren.“
    „Gerlach?“ In ihrem Hirn arbeitete es. „Hast du da nicht früher …“
    „Ja“, unterbrach ich sie. Jetzt war ich der Unwirsche.
    „Bist du

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