Jemand Anders
man hier zu Tausenden und über Jahrhunderte hinweg als Bausklaven missbrauchte. Niemals wieder gedenke ich diesen hohen Raum zu betreten, wo die als Beichtstühle getarnten schwarzen Löcher lauern, die die Menschen aufsaugen, ihren Mut zersetzen; wo flüsternd jener krankhafte, krankmachende Selbstbezichtigungskult betrieben wird, bei dem sie dir, mit jedem Mal tiefer, die spitze Spirale der Schuld hineindrehen, die dir für den Rest des Lebens Lust und Freude vergällt.
Bekenne, büße, bekenne, büße …
Nur ganz leise, kaum zu vernehmen, das Fürchtet euch nicht!
Doch ich fürchte …
Fürchte, die gotischen Spitzbögen der Stadtpfarrkirche könnten wieder auf mich einstechen wie die Argumentationsbögen theologischer Logik während des Studiums, kulminierend im großen Vertröstungsdrama: der Mär von der ewigen Verdammnis, der ewigen Glückseligkeit. Nicht zufällig hat sich das neuzeitliche Theater aus Osterläufen und ähnlichen Inszenierungen entwickelt. Von wegen zweckfreier Bau! Ohne eine solche zu Stein gewordene Majestät, ohne ihre architektonische Perfektion und Größe, könnten die irdischen Paladine Gottes nie und nimmer so wirkungsvoll ihre Macht verbreiten.
Genug. Ich lasse die Kirche links liegen und schlendere hinüber zum Stadtpark, mit dem weithin sichtbaren Kragl-Denkmal an seiner Westseite.
Der Begründer der Gerlacher Waffenschmiede steht immer noch lässig und mit herablassender Gebärde auf seinem ehernen Sockel. Gestützt auf das Gewehr in seiner Linken, den Gründerzeitblick firm in die Zukunft gerichtet, zeigt seine Rechte den unter ihm kauernden einfachen Arbeitern, wo es lang geht. Eine gewisse unfreiwillige Ironie liegt in dieser Pose, weiß man doch, wie Kragl, der Vater der Gerlacher Waffen- und Stahlschmiede, Intimus des Wiener Hofes und als solcher nicht ganz uneigennütziger Berater des Kaisers in rüstungstechnischen Angelegenheiten, endete: hinweggerafft ausgerechnet von der Tuberkulose, der Armeleutekrankheit. Ein Waffenbaron, der sich in Fürstenmanier ein Schloss auf dem Gerlacher Rosenhügel erbauen ließ, das er selbst nie betreten sollte. Kein Jagd- und Lustschlösschen irgendwo in den eigenen Forsten, um sich mit der Geliebten dann und wann vergnügen zu können, ohne viel Aufsehen zu erregen, sondern eine im neuromantischen Stil gehaltene Mischung aus Burg und Schloss.
Unerklärlich, was Kragl bei diesem Auftrag ritt: Wozu all die Zinnen, Putten und Stuckaturen, die kalten Marmorböden und ein sich über drei Geschoße erstreckendes Treppenhaus, das den Aufmärschen ganzer Dynastien Platz geboten hätte? War es der Versuch, seine bürgerliche Herkunft mittels eines pompösen Schlosses vergessen zu machen, die eigene Bedeutung auf eine pseudoaristokratische Ebene hochzustilisieren? Oder handelte es sich nur um die übliche Geschmacklosigkeit eines Parvenüs, niemandem und nichts geschuldet als eben dem gänzlichen Mangel an Stil?
Wie auch immer: Auf dem Sterbebett überkam Kragl das, was manche Ausbeuter in ihrem finalen Siechtum bisweilen zu überkommen pflegt: Reue. Sein schlechtes Gewissen – immerhin hatten sich die technologischen Spitzenleistungen der Kraglschen Waffenschmiede, wie etwa die Perfektionierung des Hinterladers, auf die Lebenserwartung Zigtausender junger Männer im Ersten Weltkrieg ziemlich negativ ausgewirkt – sein schlechtes Gewissen also veranlasste ihn, nach dem Notar rufen zu lassen und seinen Letzten Willen buchstäblich in letzter Minute abzuändern. Als dann das Testament verlesen wurde, staunte ganz Gerlach: Der Waffenbaron hatte das nagelneue, bezugsfertige Schloss auf dem Rosenhügel weder seiner Frau noch seinen beiden Söhnen und auch nicht Fräulein Breitfuß, seiner langjährigen Mätresse, vererbt, sondern den Minderbrüdern, besser bekannt als Bettlerorden der Franziskaner.
Vielleicht war es deren Armutsgelübde, das Kragl zu diesem Schritt veranlasst hatte, stellte so ein Gelübde doch einen fast exotisch anmutenden Kontrast zu seinem eigenen Leben dar. Und sucht nicht gerade der Verwöhnte, vom Leben Verzärtelte bisweilen den Kontrast in Form des Kruden, Einfachen? Das gilt damals wie heute: Topmanager, die sich für ihr Diner Starköche aus fernen Metropolen einfliegen lassen, können plötzlich ganz sentimental werden, wenn ihnen auf einer Berghütte ein schlichter Wurstsalat vorgesetzt wird: Nein, so etwas Köstliches! … in meinem ganzen Leben habe ich noch nie … also diese Natürlichkeit, dieser ehrliche
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