Jemand Anders
hätte ich die Sache sofort melden müssen. Jetzt gibt es nichts mehr zu melden. Und nichts mehr zu finden.
Vermutlich hat er selbst die Kratzer an seiner Kiste angebracht. Aber rein zufällig haben zwei Zeugen mich auf dem Lehrerparkplatz gesehen, kurz bevor Bell den ungeheuren Vandalenakt entdeckte. Folglich kommt niemand außer mir als Täterin in Frage. Der Schaden, heißt es, gehe in die Tausende Euro. Zwei Autotüren mussten erneuert werden, dazu noch die tiefe Delle am Dach.
In ihren Augen bin ich längst eine Diebin, eine Vandalin, eine Telefonterroristin. Welchen Sinn hätte es, bei diesem Schauprozess dabei zu sein? Von wegen Disziplinarkonferenz! Welche Disziplin wird hier gefordert, und von wem?
*
Bell war nicht unglücklich darüber, dass Joy am Tag X, einem Mittwoch Ende April, fehlte. Unentschuldigt fehlte, versteht sich. Es passte gut ins Bild.
Die Konferenz verlief erwartungsgemäß. Kratochwil die Krawatte hatte die Sache nicht wirklich im Griff, sein Hang, es allen recht machen zu wollen, kam wieder einmal unangenehm zum Tragen. Diese charakterliche Schwäche hatte er sich erhalten, obwohl ihm längst nicht mehr anzusehen war, dass er einmal zu den jungen Wilden an der Schule gezählt hatte. So ein Wandel des Status vom gewöhnlichen Lehrer zu dem eines Direktors ist ja in der Regel an einem deutlich kürzeren Haarschnitt und an der schleichenden Veränderung der Garderobe abzulesen. Zuerst hatte Kratochwil seine alte Strickweste mit den ledernen Ellbogenflecken gegen ein adrettes Schnürlsamtsakko eingetauscht, bald kam auch der Binder hinzu. War es anfangs noch so etwas wie ein Kokettieren mit dem glatten Tuch, fast als wolle er, der früher heftig gegen den Krawattenzwang bei der Matura polemisiert hatte, sich selbst ein wenig verspotten, so wurde mit der Zeit aus der Ironie eine Selbstverständlichkeit – die übliche Direktorenkluft eben. Wie locker ihm das Binden des schräggestreiften Schlipses mittlerweile von der Hand ging, wie geschickt! Ja ja, dachte Bell, gerade die Linken stoßen sich am schnellsten die Hörner ab, wenn der gesellschaftliche Aufstieg winkt …
Zwei Stunden lang wurde erörtert und bedauert, einige Kollegen übten sich gar in Selbstkritik: Hätten wir nur die Zeichen richtig gedeutet, Joy Sriwongs Absturz wäre womöglich zu verhindern gewesen! Die Liberaleren im Lehrkörper forderten die Installierung eines eigenen Betreuungslehrers, die Hardliner drakonische Strafen und Schluss mit dem Sozialgeschwafel. Alles wie gehabt. Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den man sich einigen konnte: Das Mädchen sei die längste Zeit eigentlich unauffällig und während der gesamten Unterstufe eine vorbildliche Schülerin gewesen. Eifrig, wissensbegierig, der Inbegriff einer gut Integrierten. Aber unter der Oberfläche brodelten wohl bereits die Probleme innerhalb der Multikultifamilie ... dazu Joys frühe körperliche Reife, hinter der die geistige allemal zurückbleiben muss ... und dann noch der Tod der Mutter. Wer sollte, gestresst, wie Lehrer nun einmal von Stunde zu Stunde, von Klasse zu Klasse hetzen, bemerken, dass eine Pubertierende mit deutsch-thailändischem Migrationshintergrund im Begriffe war, ihr seelisches Chaos in unser Haus hereinzutragen?
Abgesehen von seiner knappen Sachverhaltsdarstellung sagte Bell wenig. Es war Teil seiner Strategie, sich zurückzuhalten. Er hatte alle Fäden gezogen, die Schlüsse daraus sollten die anderen selbst ziehen. Je weniger er in Erscheinung trat, umso besser. Er wusste, es würden sich schon ein paar Scharfmacher finden, die den Plan in seinem Sinn zu Ende führten; in dieser Hinsicht war er tatsächlich einer der Erfahrensten an der Schule. Der Einzige, der ihm einen Strich durch die Rechnung hätte machen können, fehlte bei der Konferenz: Moritz Muhrer, der Querdenker vom Dienst. Er hatte sich krank gemeldet. Ebenso wie die, über deren Zukunft verhandelt wurde.
Langsam begannen sich die Argumente zu wiederholen. Wobei auffiel, dass die Scharfmacher mehr Durchhaltekraft hatten als jene, die dem Mädchen noch eine letzte Chance geben wollten.
„Lasst uns endlich zu einem Ende kommen!“, stöhnte Christian Beierl, der junge Physikprofessor, als die Zifferblätter der Schuluhr auf achtzehn Uhr sprangen.
Offenbar hatte er Sorge, er könnte die Übertragung des abendlichen Championsleaguespiels versäumen.
Keine zehn Minuten später fällt die Entscheidung.
Zaghaft, müde, energisch – es gibt viele Varianten, in denen
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