Jemand Anders
vor Weihnachten veranstaltet hat. Was macht eine junge Dame wie du bei so einer Veranstaltung? Nein, meinte sie, das könne nicht sie gewesen sein, ich müsse mich irren. Komisch, sagte ich, ich habe doch mit eigenen Augen gesehen ... Ich war nicht dort!, wiederholte sie in einem Ton, als hätte ich ihr schon wieder einen Vorwurf gemacht. Vielleicht habe ich mich ja auch getäuscht, beruhigte ich sie. Das haben Sie sicher, sagte sie.
Doch ich habe mich nicht getäuscht. Es war Joy, hundertprozentig. Ich weiß noch, dass ich mich gewundert habe, wozu ein so zartes Mädchen eine so große Handtasche braucht. Aber was geht es mich an? Schließlich kann sie in ihrer Freizeit tun und lassen, was sie will.
Nur dass im Treiberner Anzeiger stand, beim Tag der offenen Tür sei bedauerlicherweise ein Taser entwendet worden, hat mich schon stutzig gemacht.
8. April 2010
Ich bin gerade auf dem Nachhauseweg, als das Handy klingelt.
„Hallo Edgar.“
Diese Stimme! Kaum zu glauben. Doch ein Blick aufs Display bestätigt mir: Es ist ihre Nummer. Die, die ich erst vor kurzem aus der Kundenkartei herausgesucht habe.
„Iris! Das ist aber eine Überraschung … eine schöne Überraschung!“
Sie klingt nicht mehr ganz so schroff wie beim letzten Mal.
„Ich hab darüber nachgedacht. Über das, was du mich vorgestern alles gefragt hast. Und was nicht. Dabei ist mir etwas aufgefallen.“
„Was denn?“
„Dass du dich weit mehr für J. R. interessiert hast als für mich.“
„Ich hab dir doch erklärt, warum.“
„Weil er in deinem Studio gestorben ist. Und weil du dich nicht mehr an die Umstände erinnern kannst. So hast du jedenfalls argumentiert.“
„Es ist die Wahrheit!“
„Aber wozu willst du dann alles Mögliche über sein früheres Leben erfahren? Ich meine, wenn du unsere Beziehung dabei gar nicht im Hinterkopf hast.“
Ich schweige. Der Gedanke ist mir noch nicht gekommen. Dafür kracht es plötzlich, wie wenn eine Walnuss geknackt wird. Etwas zwängt sich, gelenkt von unsichtbarer Hand, ins Innere meines Hirns. Mir wird übel. Hat mein Sturz noch schlimmere Folgen als jene, die Dr. Sellner diagnostizierte?
„Die Amnesie“, stammle ich, „ich kapiere momentan so vieles nicht. Ist es da nicht naheliegend, ich meine, dass man versucht, Informationen zu sammeln, um … um sich wieder ein bisschen zurechtzufinden?“
Sie scheint nachzudenken. Im Hintergrund höre ich Fahrgeräusche. Ist sie im Auto unterwegs? Der Gedanke beunruhigt mich zusätzlich. Ich habe erlebt, wie emotional sie reagieren kann.
Aber als sie sich wieder meldet, klingt sie ganz entspannt.
„Du hast mich einmal gefragt, warum ich auf ältere Männer stehe.“
Okay, denke ich, wenn du das behauptest.
„Ich war damals nicht ganz ehrlich. Habe gesagt, was du hören wolltest. Dass ich mich bei ihnen sicherer fühle, aufgehoben. Aber das war schon bei J. R. nicht der wahre Grund. Und erst recht nicht bei dir. Vielleicht hätte ich es dir ja eines Tages erklärt. Wenn du … wenn du mich nicht so abgrundtief beleidigt hättest.“
„Beleidigt?“
Ich versuche, den elenden Kahlschlag in meinem Schädel aufzuforsten in einem Kraftakt sondergleichen, mit schnell wachsenden Pappeln und Fichten, fünf Meter pro Sekunde und mehr. Ich schlage mir mit den Knöcheln an die Stirn, dass es schmerzt, doch das Verlorengegangene lässt sich nicht rekonstruieren. Mag sein, es ist eh besser so. Nach all dem, was sie mir im Café Kornblume über mich erzählt hat.
Angeblich gibt es ja die Gnade der späten Geburt. Vielleicht gibt es auch die Gnade des rechtzeitigen Vergessens?
„Ich denke, es ist nur fair, dir zu sagen, warum ich mich wieder so schnell von dir abgewandt habe, Edgar. Selbst wenn du nicht mehr zu wissen scheinst, dass wir etwas miteinander hatten.“
Ich ziehe es vor zu schweigen.
„Vielleicht möchtest du ja raten?“
Nein, das möchte ich nicht. Aber sie zwingt mich dazu, indem sie nun ihrerseits nichts mehr sagt.
„Ist es wegen J. R. gewesen? Wolltest du zu ihm zurück?“
Ich höre ihr ungläubiges Japsen.
„Nein, o nein! Damit hatte er nichts zu tun, absolut nicht. Und es war auch nicht wegen seines Todes. Ich hatte schon einige Tage zuvor mit dir Schluss gemacht.“
„Weil ich dich so beleidigt habe.“
„Ja.“
Ich versuche mir vorzustellen, wodurch ein zweiundsechzigjähriger Mann seine fünfunddreißig Jahre alte Geliebte beleidigt haben könnte. Hat er sie mit einer anderen betrogen? Oder hat er sie eine
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