Jenseits Der Schatten
bezahlen. Wenn es sein muss, kannst du ihr anbieten, was immer notwendig ist.«
»Ich denke nicht, dass sie auf ein Bestechungsgeld aus ist«, erwiderte Vi.
»Das denke ich auch nicht.« Wieder hielt Schwester Ariel inne. »Ich hatte damit gerechnet, dass ich dich würde zwingen müssen, zu ihr zu gehen, Vi. Das Mädchen, das du früher warst, hätte das niemals getan. Gut gemacht.«
Perfekt, jetzt war es unmöglich, einen Rückzieher zu machen.
Vi ging zur zentralen Treppe und begann den Aufstieg. Sie
hatte erst wenige Stockwerke hinter sich gebracht, als die Steine sanft zu pulsieren begannen, wie sie es jeden Morgen bei Sonnenaufgang taten. Auf einem Treppenabsatz blieb sie stehen, als sich beinahe unsichtbare Staubrinnsale zu kleinen Flüssen zusammentaten. Sie flossen an ihren Füßen vorbei, und in der Wand öffnete sich ein kleines Loch. Die Ansammlung des Staubes eines einzigen Tages glitt hindurch, und das Loch schloss sich. Überall im Seraph wiederholte sich die Szene. Von außen würde der Seraph den Eindruck erwecken, als sei er kurz von einem Lichtkranz umgeben, während seine Magie Dreck, Schmutz, Regen oder Schnee abstieß. Der Schutt würde sich in den See ergießen und dort durch Magie zerstreut werden, die dafür sorgte, dass das Wasser rund um den Seraph noch klarer war als das im Vestacchi-See.
Es gab natürlich immer noch jede Menge Aufgaben für die Novizen. Die Magie wurde in jedem Raum außer Kraft gesetzt, in dem sie möglicherweise die Experimente einer Schwester stören oder empfindliche Artefakte beeinträchtigen könnte, und sie missachtete Pergamentschnipsel, Kleider und alles, was man vielleicht auf dem Boden liegen gelassen hatte. Aber ohne die Magie hätten die Novizen unablässig arbeiten können und wären doch niemals in der Lage gewesen, die Chantry sauber zu halten. Sie war einfach zu groß.
Vi erreichte eins der oberen Stockwerke, in dem voll ausgebildete Schwestern ihre Wohnräume hatten. Es gab irgendeine Hackordnung, die regelte, wer in welchem Stockwerk wohnte und welche Schwestern die hochgeschätzten Südlagen bekamen, aber Vi hatte keine Ahnung, wie diese Hackordnung funktionierte. Barmherzigerweise war niemand im Flur. Vi folgte den Lampen, die nie flackerten, in die südwestliche Ecke. Der Seraph hielt ein Schwert in der linken Hand, dessen Spitze zu seinen Füßen stand
und dessen Griff - seitlich leicht ausgestellt - bis knapp über seine Taille reichte. Der Knauf dieses riesigen Schwertes war mit einem runden Juwel bedeckt. Der Raum war eine Kugel, von der aus Schwestern den Sonnenaufgang und den Sonnenuntergang beobachten konnten. Seine Mauern waren immer transparent. Es war eine Zuflucht für jene, die das Bedürfnis hatten zu meditieren oder, wie in Elenes Fall, zu beten.
Vi holte tief Luft und öffnete die Tür. Elene saß da und blickte zu den östlichen Bergen hinüber. Die Aussicht war atemberaubend. Vi hatte sich noch nie im Leben in solcher Höhe befunden. Die Kähne auf dem See unter ihr sahen etwa so groß aus wie ihr Daumen. Die Berge glühten. Die Sonne war ein gezackter Halbkreis, der kaum über die Berge hinauslugte. Aber Vis Blick suchte Elenes Gesicht. Ihre Haut leuchtete im sanften Licht, ihre Augen waren dunkelbraun und ihre Narben gemildert. Sie bedeutete Vi, neben sie zu treten, ohne den Blick vom Horizont abzuwenden.
Zaghaft stellte Vi sich neben sie. Gemeinsam beobachteten sie den Sonnenaufgang.
Vi wagte es nicht, sich umzudrehen und Elene ins Gesicht zu schauen, konnte aber keinen Moment länger warten. Daher sagte sie: »Es tut mir leid, wenn ich deine Gebete gestört habe.« Sie zog ihr Messer und legte es auf ihre offenen Hände. »Ich habe dir ein Versprechen gegeben. Ich habe dir und Kylar großes Unrecht angetan. Wenn du es wünschst … ich verdiene nichts Geringeres.«
Elene ergriff das Messer. Nach kurzer Zeit erwiderte sie: »Sein Erbarmen ist jeden Morgen neu.«
Vi blinzelte. Sie blickte zu Elene hinüber und sah eine Träne über ihre Wange laufen. »Ehm, wessen?«
»Das des Einen Gottes. Wenn er dir vergibt, wie kann ich es wagen, es nicht zu tun?«
Was?
Elene ergriff mit der linken Hand Vis rechte. Dann stand sie auf, trat dicht neben sie und blickte auf die neugeborene Sonne. Sie hielt Vis Hand fest umklammert, aber nichts Rachsüchtiges oder Angespanntes lag in ihrem Griff. Eine Aura ungeheuren Friedens umgab sie, eines Friedens, der so tief war, dass er langsam Vis angespannte Nerven beruhigte.
Nach einigen
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