Jenseits Der Schatten
war noch unheimlicher, dachte er, ohne die Schädel hinüberzugehen. Der Anblick der harmlosen Totenschädel machte ihm weniger Angst als der Anblick der Wolken weit unter ihm.
Binnen Sekunden hatten sie die Brücke hinter sich gelassen. Die Wachen an der Torfeste rissen die Augen auf und fielen auf die Knie. Dorian erkannte Rugger.
»Es tut mir leid«, sagte er. Rugger blickte auf, in der Gewissheit, dass er gleich sterben würde. Dorian heilte den Grützbeutel des Mannes mit einer Berührung. Ohne den hässlichen Auswuchs sah Rugger ganz und gar nicht schlecht aus. Rugger hob ungläubig die Hände an die Stirn.
Hand in Hand traten Dorian und Jenine durch das eiserne Fallgitter und schauten von der Höhe auf die Stadt hinab.
Die Marschkolonne von Paeriks Armee zog sich durch die Stadt und reichte weit in die Ebene hinaus. Die Spitze der Truppe begann gerade den Aufstieg zu dem Hügel, auf dem Dorian und Jenine standen. Die Männer und Frauen in den ersten Reihen waren keine Soldaten; sie waren Meister und Vürdmeister, zweihundert Personen insgesamt. Und sie waren bereits auf halbem
Weg zu Dorian. Der magische Feuersturm, an dem er soeben Anteil gehabt hatte, konnte ihnen nicht entgangen sein. Einer von ihnen fixierte ihn mit seinem Blick.
»Werden wir sterben?«, fragte Jenine.
»Nein«, erwiderte Dorian. »Diese Leute haben so lange unter der Despotie gelebt, dass sie gar nicht mehr wissen, was sie tun sollen, wenn man ihren Anführer getötet hat. Ein weiterer Bluff, und wir sind auf dem Weg nach Hause.« Welches Zuhause ist das, Dorian?
»Ihr denkt wirklich, Ihr könnt das mit einem Bluff erledigen?«, fragte Jenine und deutete auf die riesige Armee.
Dorian lächelte, und ihm wurde klar, wie lange er schon nicht mehr über die Zukunft nachgedacht hatte. Er war jetzt kein Prophet mehr, aber ja, er war sich sicher. Er stand im Begriff, ein letztes Mal alles auf eine Karte zu setzen. Einige Befehle, einige Flüche, vielleicht einige Tote, und er und Jenine würden auf dem Weg nach Cenaria sein. Es würde funktionieren. Zumindest konnte es funktionieren.
Etwas Kaltes berührte ihn an der Wange. Dorian blinzelte.
»Was?«, fragte Jenine, als sie die Hoffnung in seinen Zügen sterben sah. »Was ist passiert?« Sie folgte seinem Blick nach oben.
»Es schneit«, sagte er leise. »Die Pässe werden nicht mehr zu überwinden sein. Wir sitzen in der Falle.«
In der Ferne, kaum hörbar unter dem Zischen des fallenden Schnees, glaubte Dorian, Khali lachen zu hören.
Der Schnee war das denkbar schlechteste Wetter für Unsichtbarkeit. In Cenaria schmolz der Schnee für gewöhnlich, sobald er den Boden berührte, aber heute Nacht blieb er lange genug liegen, um darin Fußabdrücke hinterlassen zu können. Der Schneeregen selbst zeichnete Kylars Körper nach, während er an ihm hinablief.
Kylar musste sich so langsam auf das ceuranische Lager zubewegen, als sei er ein Meuchelmörder. Zumindest erinnerte er sich noch daran, wie man schlich. Und zumindest verdeckten die Wolken den Mond. Trotzdem, es war kalt. Wie gewöhnlich trug Kylar unter dem Ka’kari nur Unterwäsche, und das war nicht genug.
Er zog an seinem Ohrring und schob die ferne Wahrnehmung Vis beiseite. Schaudernd kletterte Kylar einen felsigen Hügel hinauf, um eine bessere Sicht zu haben. Auf dem windigen Hügel lagerten vier Ceuraner, die sich um ein verhalten brennendes Feuer kauerten. In Reichweite standen mit Öl durchtränkte Fackeln, so dass sie der Armee unter ihnen Signale geben konnten. Kylar saß fünf Schritt entfernt von einem erschöpften Wachmann. Der Mann war ein Bauer und Fußsoldat und kein Sa’ceurai. Seine Rüstung bestand aus auf Stoff aufgenähten Platten. Statt mit Leder befestigt zu sein, das haltbar war, aber hart wurde und schrumpfte, wenn es zu häufig nass wurde, befestigten Ceuraner ihre Rüstung stets mit ruinös teuren lodricarischen Seidenbändern.
Nach der Schlacht bei Pavvils Hain hatte Garuwashi geplant, dafür zu sorgen, dass die cenarische Armee seine »khalidorischen« Plünderer in östlicher Richtung verfolgte, während die Hauptmasse seiner eigenen Armee in ihrem Rücken auf die cenarische Hauptstadt marschierte und diese einnahm. Es hätte auch funktioniert, wäre da nicht etwas gewesen, das er nicht hatte voraussehen können: Mauern.
Die meisten von Cenarias alten Mauern waren im Lauf der Jahrhunderte dem Steinbedarf seiner Einwohner zum Opfer gefallen. Viele Generationen mittelloser Bewohner des
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