Jenseits der Sehnsucht (German Edition)
Gegen seinen Willen fand Jacob die Beschreibungen und Theorien faszinierend. Diese Frau hatte eine Art, trockene Fakten über eine Kultur in lebendige Geschichte zu verwandeln. Schon fast ironisch, dass sie sich darauf konzentriert hatte, die Auswirkungen der modernen Technologie auf eine ihrer Meinung nach primitive Gesellschaft zu analysieren. Während des letzten Jahres hatte er viel Zeit darauf verwandt, sich Gedanken darüber zu machen, wie die Technologie, die ihm zur Verfügung stand und die er als völlig selbstverständlich erachtete, auf die Gesellschaft seiner Schwägerin wirken musste.
Sie war also intelligent, gestand er fast mürrisch zu. Offensichtlich auch gründlich und präzise in ihrer Arbeit. Qualitäten, die ihm Bewunderung abverlangten. Das hieß aber nicht, dass sie seinen Bruder behalten konnte.
Er schaltete den Computer aus und ging wieder nach unten.
Sunny machte sich nicht die Mühe aufzublicken, als sie ihn kommen hörte. Sie war fest entschlossen, so zu tun, als sei er gar nicht da, und hielt den Blick angestrengt auf ihre Bücher gerichtet. Sie hätte sich nicht darüber beschweren können, dass er laut oder lästig war. Außer, dass seine schiere Anwesenheit sie störte.
Weil sie allein sein wollte, redete sie sich ein und sah ihm nach, wie er in die Küche schlenderte. Was nicht stimmte. Sie verabscheute es, lange allein zu sein. Sie brauchte Menschen um sich, Gespräche, Partys, sogar Auseinandersetzungen. Dieser Mann aber störte sie. Mit dem Stift klopfte sie leicht gegen ihre Zähne und starrte ins Feuer. Warum? Das war die große Frage.
Möglicherweise durchgeknallt, schrieb sie auf ihren Notizblock. Dann musste sie grinsen. Gut möglich, dass der erste Stock jetzt ausgeräumt war. Da tauchte dieser Mann aus dem Nichts auf, hauste im Wald und spielte mit Wasserhähnen.
Möglicherweise gefährlich. Bei der Vorstellung erstarb ihr Grinsen und machte einem tiefen Stirnrunzeln Platz. Es gab nicht viele Männer, die sie so überrumpeln konnten wie er. Aber er hatte sie nicht verletzt, und, wie sie zugeben musste, er hätte es tun können. Trotzdem, seine Gefährlichkeit beschränkte sich nicht auf seine körperliche Überlegenheit.
Starke Persönlichkeit. Von ihm ging eine ungewöhnliche Präsenz aus, die unmöglich zu ignorieren war. Selbst wenn er nichts sagte und nur beobachtete, schien er auf der Hut zu sein, ständig bereit zum Sprung, ständig wie unter Strom. Und wenn er dann lächelte, war man glatt bereit, den Stromstoß in Kauf zu nehmen.
Verboten attraktiv. Der Ausdruck gefiel Sunny nicht, aber es war nun mal so. Da war etwas Ungezähmtes und Wildes an seinem Aussehen. Dieses markante Gesicht, die dunkle Mähne. Und seine Augen, dieses Grün … als könnten seine Augen direkt in einen hineinsehen. Die schweren Lider ließen ihn nicht verschlafen, sondern grüblerisch wirken.
Heathcliff, dachte sie und lächelte über sich selbst. Libby war doch die Romantische von ihnen beiden, die, die den Leuten ständig ins Herz sah. Sunny dagegen konzentrierte sich lieber auf den Verstand.
Abwesend zeichnete sie sein Gesicht auf eine Ecke des Blatts. Irgendetwas war anders an ihm, und es ärgerte sie, dass sie es nicht bestimmen konnte. Er wich aus, gab sich geheimnisvoll und exzentrisch. Dagegen war nichts einzuwenden – wenn sie erst herausgefunden hatte, was er geheim halten wollte. Steckte er in Schwierigkeiten? Musste er sich verstecken und suchte deshalb ein stilles Plätzchen?
Oder war es wirklich so simpel, wie er behauptet hatte? Wollte er seinen Bruder besuchen und endlich dessen Frau persönlich kennenlernen?
Nein. Düster blickte Sunny auf das kleine Porträt und schüttelte den Kopf. Das mochte vielleicht stimmen, aber das war sicherlich nicht der einzige Grund. J. T. Hornblower hatte irgendetwas vor. Und früher oder später würde sie herausfinden, was genau das war.
Mit einem Achselzucken legte sie den Block zur Seite. Jetzt hatte sie zumindest die Erklärung für ihr Interesse an Jacob Hornblower gefunden. Sie wollte lediglich wissen, was der Mann plante. Und mit diesem Gedanken ging sie in die Küche.
»Was, zum Teufel, machst du da?«
Jacob sah auf. Auf dem Tisch vor ihm lag der Toaster in seine Einzelteile zerlegt, auf einem Teppich von schwarz verbrannten Krümeln. In einer Schublade hatte Jacob einen Schraubenzieher gefunden und sich offensichtlich sogleich an die Arbeit gemacht.
»Er muss repariert werden.«
»Schon, aber …«
»Magst du etwa
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