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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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führte ihn über die Schwelle des Hauses und in einen völlig andersartigen Wahnsinn hinein.

    »Raul?«
    Ausgerechnet Raul.
    Gerade als sie sich auf die vor ihr liegende Aufgabe konzentriert hatte, kam er durch die Tür, und sein Auftauchen war so ein Schock, daß sie es einer Fehlfunktion ihres Denkens zuge-schrieben haben würde, wäre sie sich der Funktion ihres Verstandes jetzt nicht so sicher gewesen wie noch niemals vorher in ihrem Leben. Dies war keine Halluzination. Er stand leibhaftig vor ihr, hatte ihren Namen auf den Lippen und einen freundlichen Gesichtsausdruck zur Begrüßung.
    »Was machst du denn hier?« sagte sie und spürte, wie sie die Macht über den Zauber verlor.
    »Ich bin deinetwegen gekommen«, lautete seine Antwort.
    Dann folgte die grimmige Erkenntnis, was er damit meinte. Lix schlängelten sich über die Schwelle ins Haus.
    »Was hast du getan?« sagte sie.
    »Wie schon gesagt«, antwortete er, »ich bin deinetwegen gekommen. Wir alle.«
    Sie wich einen Schritt vor ihm zurück, aber da das Schisma das halbe Haus einnahm und die Lix die Eingangstür
    bewachten, war der einzige Fluchtweg die Treppe hinauf. Das war bestenfalls eine vorübergehende Zuflucht. Sie würde da oben festsitzen und darauf warten, daß sie sie holten, wenn es ihnen paßte, aber die Mühe konnten sie sich sparen. In wenigen Minuten würden die Iad im Kosm sein. Und danach war der 742
    Tod vielleicht erstrebenswert. Sie mußte bleiben, mit oder ohne Lix. Ihre Aufgabe lag hier, und sie mußte sie rasch erledigen.
    »Bleib mir vom Leibe«, sagte sie zu Raul. »Ich weiß nicht, warum du hier bist, aber bleib mir vom Leibe!«
    »Ich bin gekommen, um die Ankunft zu sehen«, antwortete Raul. »Wir können gemeinsam hier warten, wenn du magst.«
    Raul hatte das Hemd aufgeknöpft; sie sah, daß er einen vertrauten Gegenstand an einer Kette um den Hals trug: das Medaillon des Schwarms. Dieser Anblick weckte einen
    Verdacht in ihr: Das war überhaupt nicht Raul. Er benahm sich auch nicht wie der ängstliche Nunciat, den sie in der Misión de Santa Catrina kennengelernt hatte. Hinter seinem
    Halbaffengesicht versteckte sich jemand anders: der Mann, der ihr das rätselhafte Symbol des Schwarms zum erstenmal gezeigt hatte.
    »Kissoon«, sagte sie.
    »Jetzt hast du mir meine Überraschung verdorben«, sagte er.
    »Was hast du mit Raul gemacht?«
    »Enteignet. Aus dem Körper vertrieben. Das war nicht
    schwer. Er hatte eine Menge Nuncio in sich. Das machte ihn verfügbar. Ich habe ihn in die Schleife gezogen, so wie dich.
    Nur war er eben nicht schlau genug, mir Widerstand zu leisten, so wie du oder Randolph. Er hat sich ziemlich schnell ergeben.«
    »Du hast ihn ermordet.«
    »O nein«, antwortete Kissoon unbekümmert. »Seine Seele ist am Leben und bei bester Gesundheit. Bewahrt mein Fleisch vor dem Feuer, bis ich zurückkomme. Ich werde meinen
    Körper wieder bewohnen, sobald er aus der Schleife ist. Darin will ich ganz sicher nicht bleiben. Das ist widerlich.«
    Plötzlich stürmte er ihr entgegen, so behende, wie nur Raul es sein konnte, und packte sie am Arm. Sie schrie, so fest war sein Griff. Er lächelte ihr wieder zu, kam mit zwei schnellen Schritten dicht an sie heran, und binnen eines Herzschlags war 743
    sein Gesicht ganz dicht an ihrem.
    »Ich hab' dich«, sagte er.
    Sie sah an ihm vorbei zur Tür, wo Grillo stand und in das Schisma starrte; die Wellen der Essenz brandeten mit
    zunehmender Häufigkeit und Heftigkeit. Sie schrie seinen Namen, aber er reagierte nicht. Schweiß lief ihm übers Gesicht; Speichel troff ihm aus dem offenen Mund. Wo immer er sein und wandern mochte, zu Hause war er jedenfalls nicht.
    Wäre sie imstande gewesen, in Grillos Kopf zu sehen, hätte sie seine Faszination verstanden. Als er über die Schwelle getreten war, waren die Unschuldigen vor seinem geistigen Auge verschwunden und einem beißenderen Unwohlsein
    gewichen. Sein Blick wurde zur Brandung gezogen, und dort erblickte er das Grauen. Zwei Menschen waren ganz dicht am Ufer, sie wurden angespült und von der Brandung, die sie zu ertränken drohte, wieder fortgerissen. Er kannte sie, obwohl ihre Gesichter stark verändert waren. Eine war Jo-Beth McGuire. Der andere Howie Katz. Weiter draußen glaubte er eine dritte Gestalt zwischen den Wellen zu sehen, blaß vor dunklem Himmel. Den kannte er nicht. Er schien kein Fleisch mehr am Schädel zu haben. Er war ein wellenreitender
    Totenschädel.
    Aber der wahre Schrecken fing erst noch weiter

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