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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Gedanken zu
    klammern, aber sie hatte schon früher gegen Beeinflussungen gekämpft, von Filmproduzenten und Schamanen, und daher gelang es ihr, das Allerschlimmste von sich abzuwenden. Aber es wurde immer schwerer, je näher die Iad der Schwelle kamen. Sie wagte nicht, an das ganze Ausmaß ihrer
    Verderbtheit zu denken, wenn schon allein die ersten Vorboten ihres Erscheinens solche Auswirkungen auf die Psyche hatten.
    Bei allen Überlegungen, wie die Invasion wohl aussehen würde, war sie nie auf die Idee gekommen, daß Wahnsinn ihre Waffe sein könnte. Aber vielleicht war es so. Es gelang ihr zwar, die Einflüsse des Bösen eine Zeitlang von sich
    abzuhalten, sie wußte aber, früher oder später würde sie davor kapitulieren. Kein menschliches Gehirn konnte das alles ewig von sich fernhalten und hatte angesichts solcher Schrecken gar keine andere Wahl, als sich in den Wahnsinn zu flüchten. Die Iad Uroboros würden über einen Planeten voller Irrer
    herrschen.
    Jaffe war selbstverständlich bereits auf halbem Weg zum geistigen Zusammenbruch. Sie fand ihn an der Tür des
    Zimmers, wo er die ›Kunst‹ angewendet hatte. Der Raum hinter ihm wurde inzwischen völlig vom Schisma
    eingenommen. Als sie durch die Tür sah, begriff sie zum ersten 737
    Mal richtig, wieso die Essenz ein Meer genannt wurde. Wogen dunkler Energie brandeten gegen das Ufer des Kosm, ihre Gischt spritzte durch das Schisma. Dahinter sah sie eine weitere Bewegung, die nur flüchtig zu erkennen war. Jaffe hatte von wandelnden Bergen gesprochen, und von Flöhen.
    Doch Teslas Verstand beschwor ein anderes Bild, um die Invasoren zu charakterisieren. Sie waren Riesen. Die zum Leben erwachten Schrecken ihrer frühesten Alpträume. Bei diesen Begegnungen in der Kindheit hatten sie häufig die Gesichter ihrer Eltern gehabt, eine Tatsache, aus der ihr Analytiker eine Menge machte. Aber dies waren Riesen einer anderen Prägung. Wenn sie überhaupt Gesichter hatten, was sie bezweifelte, so waren diese nicht als solche zu identifizieren.
    Nur eines war ganz sicher: fürsorgliche Eltern waren sie nicht.
    »Sehen Sie?« sagte Jaffe.
    »O ja«, sagte sie.
    Er stellte die Frage noch einmal, und seine Stimme war gelö-
    ster, als er sie jemals gehört hatte.
    »Siehst du, Papa?«
    »Papa?« sagte sie.
    »Ich habe keine Angst, Papa«, fuhr die Stimme, die aus dem Jaff kam, fort. »Sie werden mir nicht weh tun. Ich bin der Todesjunge.«
    Jetzt begriff sie. Jaffe sah nicht nur mit Tommy-Rays Augen, er sprach auch mit der Stimme des Jungen. Sie hatte den Vater an den Sohn verloren.
    »Jaffe!« sagte sie. »Hören Sie mir zu. Ich brauche Ihre Hilfe!
    Jaffe?« Er antwortete nicht. Sie vermied es, so gut sie konnte, in das Schisma hineinzusehen, ging zu ihm, packte ihn an seinem zerfetzten Hemd und zerrte ihn zur Eingangstür.
    »Randolph!« sagte sie. »Sie müssen mit mir reden!«
    Der Mann grinste. Das war kein Ausdruck, der jemals zu diesem Gesicht gehört hatte. Es war das breite, zähneflet-schende Grinsen eines kalifornischen Prinzen. Sie ließ ihn los.
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    »Sie sind mir eine große Hilfe«, sagte sie.
    Sie durfte keine Zeit mehr mit dem Versuch vergeuden, ihn aus dem Abenteuer zu locken, das er mit Tommy-Ray teilte.
    Sie mußte alleine durchführen, was sie vorhatte. Es war ein Unterfangen, das leicht zu planen und, vermutete sie, verdammt schwer - wenn nicht gar unmöglich - auszuführen war.
    Aber sie hatte keine andere Wahl. Sie war keine große Schamanin. Sie konnte das Schisma nicht verschließen. Aber sie konnte es vielleicht versetzen. Sie hatte schon zweimal bewiesen, daß sie die Macht hatte, in die Schleife und wieder heraus zu gehen. Sich selbst - und andere - in Gedanken aufzulö-
    sen und nach Trinity zu bringen. Konnte sie auch leblose Materie transportieren? Holz und Mörtel? Zum Beispiel den Teil eines Hauses? Diesen Teil dieses Hauses? Konnte sie das Scheibchen des Kosm, das sie und das Schisma ausfüllten, auflösen und zum Punkt Null bringen, wo eine Kraft tickte, welche die Riesen zu Fall bringen konnte, bevor sie ihren Wahnsinn verbreiten konnten?
    Sie würde keine Antworten auf diese Fragen bekommen,
    wenn sie den Zauber nicht versuchte. Gelang es ihr nicht, lautete die Antwort nein. So einfach war das. Sie würde nur ein paar Augenblicke Zeit zur Erkenntnis haben, bevor Weisheit, ihr Scheitern und ihr Anspruch, eine Schamanin zu sein, rein akademisch wurden.
    Tommy-Ray hatte wieder angefangen zu sprechen, und sein Monolog wurde zu einem

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