Jenseits des leuchtenden Horizonts - Roman
fragte er, damit rechnend, angebrüllt zu werden. Er hielt sich bereit, sofort wegzulaufen, falls nötig.
Andro schüttelte den Kopf, ohne aufzuschauen.
»Geht es ihr … schlechter?«, fragte Jonathan zögernd.
»Sie ist gestorben«, murmelte Andro.
Jonathan hielt die Luft an. Er sah ins Zelt. Es war leer. »Wo … ist sie?«
»Der Bestatter hat sie gerade abgeholt«, flüsterte Andro bewegt.
Es schien ihm unangenehm, Gefühle zu zeigen, bestimmt glaubte er, das würde ihn schwächen.
»Was … ich meine, was ist denn mit ihr passiert?«
»Irgendwas in ihr ist geplatzt«, antwortete Andro, der das wohl selbst nicht ganz verstanden hatte. Dann versteinerte sein Gesichtsausdruck.
Jonathan beschloss, jetzt lieber keine weiteren Fragen zu stellen. »Das tut mir wirklich sehr leid«, sagte er bewegt. Wie sollte er nur sein Mitgefühl für Andro und die kleine Marlee, die immer noch schluchzte, zum Ausdruck bringen? Er wünschte bloß, Andro würde die Kleine in die Arme nehmen und sie trösten. »Wenn Sie irgendwas brauchen … Ich helfe, so gut ich kann.«
Andro sah plötzlich auf und warf ihm einen furchterregenden Blick zu. Jonathan fragte sich, ob er nun wohl doch eine Grenze überschritten hatte.
»Wieso sollten Sie mir helfen wollen?«, fragte Andro.
»Weil Sie ein Mann sind, der gerade seine Frau verloren hat«, gab er zurück. Das war schlicht und einfach die Wahrheit.
Der Hüne schien Jonathans Antwort sorgfältig zu überdenken. Einen Moment lang dachte Jonathan, er würde etwas sagen, aber offenbar hatte er es sich anders überlegt. Eine Weile verging in verlegenem Schweigen.
»Gehen Sie jetzt«, sagte Andro schließlich abweisend.
Jonathan drehte sich um und ging in Richtung seines Zelts, dann schaute er noch einmal zu Andro hinüber. Er wollte ihm so gern signalisieren, dass er für ihn da war, wenn er ihn brauchte. Andros Schultern zuckten, so als ob er quälende Schluchzer zurückhalten wollte. Jonathan ließ ihm diesen privaten Moment. Er wollte ihm zuerst die Ruhe gönnen, die er nun brauchte. Er würde seine Hilfe in den kommenden Tagen noch einmal anbieten.
11
Jonathan beobachtete Andro ein paar Tage lang und sorgte sich immer mehr. Der Kroate trank viel, weit mehr als sonst. Auch Jonathan hatte in seinem Leben schon Familienangehörige verloren, vor vielen Jahren seine kleine Schwester, was eine furchtbare Tragödie gewesen war, und in jüngster Zeit seine Großeltern und eine Großtante. Seine Eltern und der Rest der Familie waren unter stillen Tränen mit ihrer Trauer umgegangen, deshalb hatte er nie zuvor jemanden auf diese dramatische Weise leiden sehen. Als Andro anfing, wütend Selbstgespräche zu führen, fragte sich Jonathan, ob er womöglich den Verstand verlor oder einen Nervenzusammenbruch erlitt.
Am Abend zuvor war Andro in betrunkenem Zustand gestürzt und hatte sich am Kopf verletzt. Blut war ihm das Gesicht hinuntergelaufen, er hatte es nicht einmal bemerkt. Jonathan hätte ihm gern geholfen, aber Andro verfluchte jeden, der ihm zu nahe kam. In seiner Wut warf er mit allem um sich, was ihm in die Finger kam, also hielt er sich lieber fern.
Jonathans Hauptsorge galt jedoch Marlee. Andro ignorierte die Kleine vollkommen. Sein Verhalten machte ihr sichtlich nur noch mehr Kummer. Gerade jetzt hätte sie ihren Vater so dringend gebraucht. Sie blieb die meiste Zeit im Zelt und weinte um ihre Mutter. Jonathan nahm an, dass sich Andro nicht zu helfen wusste. Verständlicherweise empfand er Schmerz und Wut darüber, dass das Schicksal ihm Gedda genommen hatte. Doch sein unberechenbares Verhalten würde dazu beitragen, dass Marlee sich nicht nur vor einer Zukunft ohne ihre Mutter ängstigte, sondern auch noch um ihren Vater fürchten musste. Das mit anzusehen war schrecklich.
Jonathan machte sich solche Sorgen, dass er nicht mehr in seineMine hinunterging. Von seinem Platz aus beobachtete er Andro, und er war fest entschlossen einzugreifen, sollte Marlee in Gefahr sein, ganz egal, was das für ihn für Folgen haben würde.
Am Abend des fünften Tages nach Geddas Tod versuchte Andro zum ersten Mal, Fleisch über dem Feuer zu braten, was immer Geddas Aufgabe gewesen war. Er war so betrunken, dass er schwankte und fiel. Jonathan sah, dass die Pfanne kippte, und das Fleisch in die Asche kullerte. Andro rappelte sich mühsam auf, dann versuchte er ungeschickt, das Fleisch wieder einzusammeln. Er spießte Stück für Stück mit einem Messer auf, klopfte die Asche ab und warf es
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