Jenseits des Protokolls
»Angeber« und Sätze von wegen »Stimmt doch gar nicht!«. Ich habe Leander danach erklärt, dass er lieber nicht alles erzählen sollte, was er im Zusammenhang mit seinem Stiefvater erlebt. Weil es für andere Kinder tatsächlich manchmal zu unwirklich klingen konnte. Weil Leander das erlebte, was für manch ein Kind ein großer Wunschtraum ist, und es dann einfach nur nervt und Neid hervorruft, wenn ein anderer ständig darüber erzählt, dass es bei ihm Wirklichkeit war. Ich meine, wie viele Jungen träumen davon, den Spielern der Fußballnationalmannschaft einmal die Hand zu schütteln, ihnen vielleicht sogar kurz ein paar Fragen stellen zu dürfen? Anlässlich der Überreichung des Silbernen Lorbeerblattes im Oktober 2010 im Schloss Bellevue, als mein Mann das DFB-Team für seine Leistungen bei der Weltmeisterschaft in Südafrika ehrte, erfüllte sich für Leander dieser Traum. Das Foto, wie er Mesut Özil und Bastian Schweinsteiger trifft, hängt in seinem Zimmer und ich weiß, wie stolz er darauf ist. Oder aber als Papst Benedikt XVI. im September 2011 im Rahmen seines Deutschlandbesuches im Schloss Bellevue war – da hat Leander später für die Schülerzeitung einen kleinen Text geschrieben. Ganz bewusst war dies zuvor mit der Lehrerin abgesprochen worden. Damit es eben keine komischen Reaktionen von Mitschülern, aber auch anderen Eltern gibt von wegen »Jetzt müssen die noch zeigen, wen sie alles treffen«.
Ich denke schon, dass es für meinen Sohn Leander nicht immer leicht war, die Erlebnisse und Gegebenheiten in Berlin einzuordnen. Plötzlich durfte er nicht mehr alleine zur Schule gehen, sondern wurde in Begleitung von BKA-Beamten morgens hingebracht und mittags abgeholt. Dies war eine reine Vorsichtsmaßnahme, um Entführungen auszuschließen. Und so galt dies auch für Linus. Zwar hatte ich nie konkrete Angst, dass meine Söhne entführt werden könnten, doch als Mutter ist es schon ein merkwürdiges Gefühl, überhaupt daran denken zu müssen, dass die eigenen Kinder zum Objekt einer Erpressung werden könnten. Da tauchten im Kopfkino plötzlich Horrorgeschichten von Kindesentführungen auf, die ich lieber ganz schnell beiseitegeschoben habe.
Auch wer zu uns wie selbstverständlich in die Pücklerstraße zu Besuch kam, irritierte Leander durchaus. So waren dies zum Beispiel zu einem Abendessen Guido Westerwelle und sein Lebenspartner Michael Mronz. Natürlich hatte Leander Guido Westerwelle als Außenminister zuvor in der Zeitung und im Fernsehen gesehen, aber als er dann vor ihm stand, merkte ich bei Leander die Verunsicherung. Im Fall von Guido Westerwelle war das für mich amüsant zu beobachten, denn ich ahnte den Grund. So hatte ich Leander zuvor erzählt, dass die beiden, Westerwelle und Mronz, ein Paar seien, sogar verheiratet sind, genauso wie Christian und ich. Da war Leander baff und sprachlos. Ich sah, wie es in ihm arbeitete. Und in diesem Moment, als Guido Westerwelle dann völlig locker und in keiner Weise arrogant oder zugeknöpft vor ihm stand, scherzte und lachte, sah ich Leanders neugierige, musternde Blicke. Am nächsten Tag sagte Leander zu mir: »Mama, die tragen ja sogar Eheringe. Das ist ja komisch.« Ich glaube, darüber wundert er sich noch heute.
Umso stolzer bin ich auf Leander, wie er in seinem jungen Alter schon diesen schmalen Grat gemeistert und abgewogen hat, wem und wann er was von dem Erlebten in Berlin erzählen kann und wann besser nicht. Dabei ist das doch schon fast paradox, als Kind über schöne Erfahrungen nicht mit Freunden sprechen zu dürfen, weil man befürchten muss, zum Außenseiter zu werden. Manchmal mache ich mir Sorgen, inwiefern dieses sich-beherrschen-und-kontrollieren-müssen Spuren hinterlassen und was bei den Jungs von allem in Erinnerung bleiben wird. Wie sie die Erlebnisse verarbeiten werden. Zum einen die zahlreichen, durchaus sehr positiven und tollen Ereignisse. Aber eben auch die Begegnungen und Geschehnisse gerade in den letzten Wochen des Jahres 2011, als die Probleme richtig begannen, bis zu den ersten Wochen im Jahr 2012 und zum Rücktritt.
Wenn Leander und Linus junge Erwachsene sind, was werden sie dann in der Retroperspektive über das Erfahrene denken? Wird sich Linus überhaupt tatsächlich auch in zehn Jahren noch an all die Fotografen und Journalisten erinnern, die sich hier vor unserem Haus in Großburgwedel positioniert haben, in den Tagen nach dem Rücktritt meines Mannes? Leander, denke ich, auf alle Fälle. Dafür
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