Jenseits des Tores
Baldaccis Stimme.
»Du weißt ...?«
»Sieh hin!«
Lilith schlug die Augen auf - und schrie auf!
Die Hölle, ihre Hölle, hatte sich verändert! Einzig das Tor war geblieben. Es stand nun leicht erhöht inmitten eines steinübersäten Feldes, noch immer, ohne sich in eine Wand zu fügen. Doch um das Portal her war nicht länger die Wüstenei aus Knochenstaub. Dunkle Nebel wogten, soweit der Blick reichte. Und darunter - unter ihren Händen und Füßen - spürte Lilith einen schwammigen, feuchten Boden, wie Morast beinahe, aber doch zäher, so daß sie nicht darin versank.
»Wo bin ich?« fragte sie leise.
Und wo war Raphael? Er hatte doch eben noch zu ihr gesprochen! Hastig sah sie sich um, doch es war nichts außer brodelnder Schwärze um sie her.
»Raphael?« fragte sie zaghaft, als könnte sie durch unbedachtes Rufen verborgenes Grauen wecken. »Wo bist du?«
Ich kann dich nicht begleiten ...
»Wo bist du?« wiederholte Lilith, als sie seine Stimme hörte. Sie schien direkt in ihr aufzuklingen.
Ich bin Teil deiner Schuld, die die erste Hölle erschaffen hat. In diese zweite kann ich dir nicht folgen .
»In welcher Hölle bin ich?«
Das mußt du selbst am besten wissen ... Besinne dich deiner größten Angst... Sie hat dich an diesen Ort geführt...
Lilith schauderte, als sie es tat, - als sie sich ihrer größten Angst besann. Nichts fürchtete sie tief in ihrer Seele mehr als - - Landru!
*
Enya umklammerte die Stichwaffe aus Salvats Arsenal. Sie steckte in einer Gürtelschlaufe und sah wie ein schnörkelloses Werkzeug aus. Aber um ein solches wirklich zu sein, hätte sie nicht mit dieser Patina aus getrocknetem schwarzen Blut umgeben sein dürfen. Sie war unterarmlang und verjüngte sich vom hornigen Schaft aus immer weiter bis hin zu einer Spitze, die selbst bei leichtestem Druck jede Haut und die meisten Kleiderstoffe durchdrang.
Noch einmal tippte die Gesandte mit der Schuhspitze gegen die Leiche, die ihr im Weg lag und mit ihren besonderen Sinnen nicht zu erfühlen gewesen war.
Warum nicht?
Nachdem das Leben aus dem männlichen Toten gewichen war, besaß er keinen höheren Status mehr .
In diesem Augenblick ging Licht an.
Eine elektrische Birne streute Helligkeit, die Enya im ersten Moment blendete und erstarren ließ. Dennoch gestattete sie sich nicht, ihre Augen im Reflex zu schließen. Sie hielt sie offen, und so gewahrte sie jenseits der blinden Flecke, die über ihre Netzhäute tanzten, denjenigen, dem ihre Suche galt.
Er trat ihr aus der offenen Tür entgegen. Und er widersprach ihren Vorstellungen völlig!
Er war etwa einen Kopf größer als sie selbst, vielleicht einsfünfun-dachtzig, und von atemberaubender Sinnlichkeit.
Sinnlichkeit?
(O Gott, nein, es ist eine Bestie!)
Enya kämpfte gegen das Gefühl an, der Dielenboden unter ihren Füßen hätte zu schwanken begonnen. Noch fester umschloß sie die Waffe. Ihre Knöchel traten weißlich unter der gebräunten Haut hervor, aber sie ahnte längst, daß diese Waffe, obwohl von Salvat stammend, machtlos sein würde, weil sie sie nie gegen einen solchen Körper hätte erheben können!
Enya erbebte.
Nie zuvor war sie versucht gewesen, sich für gefährdet zu halten, eines Tages dem Wahnsinn zu verfallen, aber in diesen Sekunden, in denen sie das Bild des Indianers in sich aufnahm, war sie sich dessen nicht mehr sicher.
»Wie ist dein Name?« fragte er mit einer rauhen, männlichen Stimme, die seine Anziehungskraft noch zu erhöhen schien.
Nachdem sie meinte, ihre eigene Stimme wieder in der Gewalt zu haben, entgegnete sie: »Ich werde dir die Fragen stellen, Vampir!«
Er lächelte kühl wie Marmor. »Möchtest du meinen Namen wissen?«
»Es wäre ein Anfang.«
»Ich bin Hidden Moon.«
Sein Lächeln gerann zu einem Ausdruck, bei dessen Anblick alles schmolz, was Enya an ehernen Vorsätzen mitgebracht hatte.
»Allein bin ich nichts«, sagte er dunkel. »Drüben war ich nie allein .«
»Drüben?«
Er trat auf sie zu. Sie wollte zurückweichen, aber dann harrte sie doch aus, immer noch die Finger an der Waffe, immer noch von dem Irrglauben beseelt, dem, was da kam, gewachsen zu sein.
Seine Blicke glitten über ihr Trikot.
Nein, dachte Enya und ließ sich bereitwillig von einer Gänsehaut umschmeicheln, nicht über, unter mein Trikot!
Der Gedanke hatte nichts Abstoßendes .
... und spätestens daran hätte die Gesandte erkennen müssen, daß sie, wenn sie jetzt nicht Einhalt gebot, verloren war!
Aber sie ließ auch zu,
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