Jenseits des Tores
nämlich wie derjenige, der ihre Familie ermordet hatte, als sie noch ein Kind, ein Mädchen von acht Jahren, gewesen war.
An dem Tag, als ihre Eltern dem Blutdurst eines Vampirs zum Opfer fielen, war das in Enya erwacht, was alle Angehörigen der Illu-minati - aber jeden in unterschiedlicher Form - auszeichnete: die Kraft! Das, was die Wissenschaftler das Paranormale nannten, obwohl es abseits jeglicher Normalität angesiedelt war!
Enya seufzte und gestattete sich, die Augen für die Dauer von drei Herzschlägen zu schließen. Auch während dieser Spanne blieb sie jedoch sehend, auf einer Ebene, wie sie Unbegabten auf ewig verschlossen bleiben würde.
Sie schickte ihre geistigen Fühler in das Haus, und die Stille des sie umgebenden Dorf rückte ein wenig von ihr ab.
Das Fahrzeug, mit dem Enya gekommen war, parkte in sicherer Entfernung. Es war auszuschließen, daß jemand ihre Ankunft bemerkt hatte.
Enya straffte sich. Sie trug eine spezielle, von Salvat erhaltene Waffe bei sich - wie geschaffen, um die Beute zu erlegen!
Ihr mentales Suchen hatte Erfolg! In dem Haus, das sie mit traum-wandlerischer Sicherheit gefunden hatte, hielt sich etwas auf, das kein menschliches Echo warf!
Enya ging zur Tür.
Es war weit nach Mitternacht, aber nun wußte sie, daß die Bewohner dieses Hauses nicht schliefen, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach tot waren.
Die Gesandte drückte die Klinke nieder, aber die Tür selbst gab nicht nach.
Sekunden später knackte es im Schloß. Enya erhob sich aus der Hocke und verstaute das Werkzeug, das ihr auch ohne Einladung den Zutritt in die meisten Häuser verschafft hätte, in ihrem Gürtel, der das hautenge Trikot in der Taille schnürte. Einen Moment zögerte sie noch, dann setzte sie ihren Fuß über die Schwelle.
Die Stille dahinter war fast greifbar anders als draußen. Als würde etwas hier drinnen jedes Geräusch unterdrücken.
Die Spannung lauerte spürbar in jedem Winkel, und Enya bereitete sich auf die Abwehr vor. Noch ein anderer Atem als ihr eigener durchwehte die Räume des zweigeschossigen Hauses, das über nicht sehr viele Zimmer verfügen konnte.
In eines gelangte Enya, nachdem sie einen kurzen Flur durchquert hatte: eine Wohnstube mit Herd, Schränken, Regalen, einem Tisch und einer Handvoll Stühle.
Nirgends brannte Licht, und Enya beließ es dabei.
Sie tastete sich vorwärts.
Sie besaß eine unglaublich ausgeprägte Intuition, die vermutlich ebenfalls mit ihrer Para-Begabung zusammenhing. Sie spürte nicht nur die Nähe von Hindernissen, ehe sie gegen sie stieß, sondern konnte sich sogar ein ungefähres Bild von ihrem Aussehen machen!
Langsam bewegte sie sich durch das Haus.
Als sie unten nicht fündig geworden war, bewegte sie sich über eine steile Treppe ins darüberliegende Geschoß. Die Stufen knarrten, aber sonst blieb alles, wie es war.
Totenstill.
Bis Enya eine offene Tür erspürte.
Sie ging darauf zu. Niemand brauchte es ihr zu sagen; sie wußte plötzlich, daß er hier war.
Der, den sie töten sollte.
Bald rückte ihr, obwohl sie ihn noch nicht sehen konnte, sein Atem so nah, daß er sich mit dem ihren vermischte.
Aber das erste, worüber Enya stolperte, war die Leiche eines Mannes.
Ab diesem Moment war es Zeit, sich Gedanken über die Zuverlässigkeit ihrer Talente zu machen, denn dieses Hindernis hatte sie definitiv nicht gesehen.
Doch es kam noch schlimmer ...
*
Lange Zeit verstrich, in der Lilith tobte und brüllte wie eine Wahnsinnige. Und nichts anderes schien sie in dieser Zeit zu sein: eine wahnsinnige, im Blutrausch wütende Kreatur, die nichts fand, was ihre Gier befriedigt hätte. Sie grub sogar mit ihren Händen im Staub, wie eine Verdurstende auf der Suche nach wenigstens einem Tröpfchen Wasser.
Doch sie fand nichts - außer Knochenstaub. Die zermahlenen Reste jener, die zu jagen und zu töten ihr Fluch war.
Irgendwann stürzte Lilith vornüber und blieb reglos liegen, wie tot. Ihre Kräfte waren aufgezehrt worden in ziellosem Wüten. Und wieder verging eine Weile, bis Lilith sich auch nur zu regen begann. Als sie schließlich das Gesicht aus dem Staub hob, mochte Baldacci fast den Eindruck haben, in einen Spiegel zu sehen: Liliths Gesicht war weiß vom stinkenden Mehl der Knochen, Erschöpfung hatte tiefe Spuren hineingegraben, und die Haut schien trocken und ausgedörrt vom Mangel an dem so wichtigen Elixier, das es hier nicht g ab .
»Fühlst du dich jetzt besser?«
Leiser Hohn schwang in Raphael Baldaccis noch
Weitere Kostenlose Bücher