Jenseits des Windes
Süden von West-Fenn, zu ihrer Hinrichtung. Die Soldaten schubsten sie grob vor sich her, gaben ihnen nur das Nötigste zu essen und zu trinken und nahmen auch sonst keine Rücksicht auf ihr Befinden. Er fühlte sich noch immer nicht vollständig genesen, war dünner als zu seinen Soldatenzeiten. Das Gift hatte ihm die Kraft geraubt, vielleicht für immer. Er schnaubte verächtlich. Für immer. Wie lange würde das sein? Zwei Tage, drei Tage? Eine Woche? Die Gleichgültigkeit, mit der er seinem Tod ins Auge blickte, schockierte ihn, aber längst nicht so, wie sie es sollte. Alles schien ihm egal. Eines jedoch nicht. Mit Abstand schmerzte ihn am meisten Cirnods vollkommen sinnloser Tod. Er hatte sich geopfert, damit sie flüchten konnten. Das zweite Mal in seinem Leben hatte sich jemand für ihn geopfert, um sein erbärmliches Dasein zu schützen. Der Schmerz über den Verlust seines geliebten Vaters gesellte sich hinzu und brach wie eine Sturmflut über ihn herein. Eine Zeit lang lief er gekrümmt vor Qual.
Kjoren und William war eine Flucht zum Glück gelungen. Es würde ihnen jedoch nichts nutzen. Kjoren hatte keine Magie mehr in sich, konnte folglich nicht davonfliegen und würde erfrieren. Eine Träne löste sich aus Leroys Augenwinkel und tropfte auf den Waldboden. Elane warf ihm einen Seitenblick zu, sagte jedoch nichts. Es störte ihn nicht mehr, dass sie wusste, was für ein Versager er war. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sein einziges Problem darin bestand, darüber nachzugrübeln, was andere von ihm denken mochten. Lächerlich! Und das Schlimmste war, er schämte sich sogar dafür.
Am Mittag rasteten sie an einem kleinen Bach, der als schmales Rinnsal in einer sich durch den Wald schlängelnden Vertiefung dahinplätscherte. Die Soldaten füllten ihre Wasserschläuche und aßen schweigend von den dürftigen Vorräten. Jonneth marschierte durch die Reihen seiner Anhänger und musterte jeden Einzelnen. Er führte sich auf wie ein General. Noch immer lag das wahnsinnige Funkeln in seinen Augen, zudem umgab ihn eine fremdartige Aura, die Leroy Gruselschauder über den Rücken laufen ließ. Er vermutete, dass es mit der Magie in Zusammenhang stand, die er Kjoren mithilfe der Formel entrissen hatte. Leroy mied seinen Blick. Er konnte sich nicht erklären, weshalb, aber er machte sich für das Leid verantwortlich, das nicht nur Jonneth’ Gefangenen, sondern ganz Yel bevorstand. Es war töricht, zu glauben, er trüge Schuld daran, aber er konnte sich dieses Gefühls nicht erwehren.
Irgendwer warf ihm, Elane und Brynn je ein winziges Stück Trockenfleisch vor die Füße. Wenn sein Hunger nicht so übermächtig gewesen wäre, hätte er es demjenigen am liebsten um die Ohren geschlagen. Doch er nahm seine Ration schweigend auf und schluckte sie in einem Stück hinunter.
Schon bald brachen sie wieder auf. Leroys Füße schmerzten so sehr, dass er glaubte, in Ohnmacht fallen zu müssen. Ben ritt wieder einmal der Gruppe voraus und erkundete die besten Wege, hinter ihm folgte in einigem Abstand Jonneth. Er ging aufrecht und stolzierte wie ein Gockel. Weshalb begehrte niemand gegen diesen offensichtlich Verrückten auf? Er brabbelte immerzu davon, es seinem Vater heimzuzahlen. Auch wenn er der neue Thronerbe war, so war es dennoch Hochverrat , so etwas zu sagen. Vermutlich hatte Jonneth seine Speichellecker bestochen und ihnen Reichtümer versprochen. Anders war ihr Verhalten nicht zu erklären. Sie erschlugen einen alten Priester … Wo war bloß das Ehrgefühl in den Soldaten geblieben? Sie waren nicht mehr das, was sie einmal waren, als Leroy noch im Heer gedient hatte. Damals, unter König Adoran ...
Sie marschierten noch zwei weitere sich schier endlos in die Länge ziehende Tage durch die kalte Herbstluft von West-Fenn, ehe Leroy in der Ferne den Mast des Luftschiffes über den Baumwipfeln emporragen sah. Der Wind nahm mit jedem Schritt, den sie sich dem Abgrund näherten, zu und machte ihren Weg zu einem unerträglichen Gewaltmarsch. Die Kälte kroch unter die Kleidung durch die Haut ins Innerste, die Augen brannten, die Ohren schmerzten. Er hätte beinahe Erleichterung empfunden, als er die Mastspitze des Luftschiffs zum ersten Mal erblickte. Momentan schien ihm alles recht zu sein, nur um aus dem gnadenlosen Eiswind herauszukommen, und endlich wieder sitzen zu dürfen.
Als sie das Ufer erreichten und vor dem dickbauchigen Ungetüm zum Stehen kamen, das sie zurück nach Lyn bringen würde, senkte sich
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